Anders Tivag, „Fiktives Lesetagebuch als rettender Einfall“ (Mat7933)

Anders Tivag

Fiktives Lesetagebuch als rettender Einfall

Vorspiel

Leon war sauer. Als Hausaufgabe hatten sie aufbekommen, zum Kapitel „Der Architekt“ aus dem Roman „Heimsuchung“ ein Lesetagebuch zu verfassen. Ausführlich war ihnen erklärt worden:
Ich-Perspektive, Beobachtungen, Erfahrungen, weiterführende Überlegungen.
Schon beim Begriff „Tagebuch“ hatte er aufgestöhnt. Wer gab seinem Lehrer sein Tagebuch mit? Kein Mensch – und er schon gar nicht.

Glücklicherweise hatte er ziemlich den gleichen Heimweg wie Timo. Der merkte natürlich schnell, dass mit ihm was nicht stimmte. Also raus mit der Wahrheit – und siehe da: Sein Freund hatte eine Idee. Du schreibst doch hin und wieder Geschichten.
Lös die Aufgabe doch einfach, indem du dir vorstellst, wie jemand sehr intelligent, eigensinnig und vor allem kreativ mit dieser Lesetagebuch-Aufgabe umgeht.

Zu Hause setzte Leon sich gleich ran – überflog noch mal das Kapitel, um das es ging – und schon hatte er alles, was er selbst im Kopf hatte, einer ausgedachten Figur zugespielt.

Die Überschrift war ja eigentlich auch schon angelegt:
„Fiktives Lesetagebuch“
Jetzt brauchte er nur noch einen passenden Namen.
Wofür gab es die künstliche Intelligenz:
Schnell war der Frage-Prompt gefunden:
„Nenne mir häufige Namen von Schülern, die vor etwa 17 Jahren geboren worden sind.“
Von dem, was aufgeführt wurde, gefiel ihm „Alexander“ am besten – das klang nach König und Welteroberung. An den frühen Tod dachte er lieber nicht.

Dann ging es ans „Ausschreiben“. Wie immer diktierte er den Rohtext erst mal einfach in sein Smartphone und brachte es nachher noch ein bisschen auf ein höheres Niveau.

Am Ende stand auf dem Blatt , das er ggf. auch abgeben konnte:

„Fiktives Lesetagebuch als rettender Einfall“ – nicht wundern, dass gleich Alexander auftaucht – und sich Leon einige Zeit zurückhält. So ist das eben bei Rahmenerzählungen.

Das „Kunst“-Werk

Natürlich wusste Alexander, dass das Lesen von Schullektüren nicht gerade eine lustige Veranstaltung war. Es konnte ganz schön werden, aber dafür brauchte man dann auch eine Lehrkraft, die einem den Text schmackhaft machte, wenn der Autor selbst es nicht schaffte oder wollte.

Bei diesem Roman war es aber besonders heftig. Gleich am Anfang eine Einführung in die Erdgeschichte, um am Ende festzustellen, dass der Mensch offensichtlich ein Störfaktor ist. Denn mit ihm beginnt erst die Verwüstung.

Aus irgendeinem Grunde hatte die Autorin offensichtlich an einem Tag zwei Museen besucht. Nach dem geologischen auch noch eins, das sich liebevoll mit allen Facetten der lokalen Kultur beschäftigte.

Und dort musste sie eine ganz besondere Führung erwischt haben. Denn sie hatte sich alle geschätzt 41 Hochzeitsrituale gemerkt und auch noch eine ganze Menge Besonderheiten beim Umgang mit einer Leiche nach ihrem Übergang in eine pflichtlektürenfreie Welt.

Es gab dabei allerdings auch eine interessante Besonderheit, die er gleich abends seiner großen Schwester erzählt hatte. Deren Beziehung war gerade kaputt gegangen, und damit sanken auch die Chancen auf eine baldige Eheschließung mit Erfüllung der üblichen Träume von Haus, Kinder und erträglicher Doppelbelastung im Beruf.

Also hatte er sie mit dem Vorschlag überrascht, zu einem Bauernhof rauszufahren, der auch Hühner hielt. Und dort wollten sie diese Methode ausprobieren: Betrat seine Schwester den Stall und ein Hahn machte sich als erstes bemerkbar, war alles gut. Das war ein sicheres Vorzeichen für eine baldige Heirat.

Den anderen Fall lassen wir jetzt wieder lieber beiseite, er ist zu traurig.

Dann endlich ein Kapitel, das ihn schon von der Überschrift her faszinierte. Er wollte nämlich selbst Architekt werden. Es fing ziemlich chaotisch an, und er kam bald zu der Deutungshypothese, dass die Autorin ihren Roman als Rätsel verstand. Sie hatte sich sehr intensiv in die Figur dieses Architekten versetzt und der musste gerade ein Haus, das ihm zur Heimat geworden war, verlassen. Da gab es natürlich viel Stoff für Erinnerungen. Die folgen ja bekanntermaßen nicht immer geradlinig aufeinander. Und das hatte die Autorin wunderbar hinbekommen.

Ihm selbst wurde bei Fahrgeräten, in denen man regelrecht hin und her gewürfelt wurde und bald nicht mehr mehr wusste, wo oben und unten war, immer schlecht. Um das in diesem Falle zu vermeiden, hatte er bald das Lesen Seite für Seite aufgegeben und sich auf schöne Stellen konzentriert wie die mit dem Hühnerstall.

Angesichts seiner Berufspläne hatte ihm vor allem die Idee mit den drei Häuten gefallen, die der Mensch braucht. Einmal die ganz normale, dann die Kleidung und schließlich eine Wohnung, die man genauso pflegt wie die anderen beiden Häute. Man braucht sich nur mal vorzustellen, das eigene Haus würde umgebaut und man müsste wochenlang in einem Hotelzimmer wohnen. Dann weiß man, wie wichtig die Wohnung neben der Kleidung ist, um sich wohlzufühlen.

Was er auch interessant fand, war die Story, dass dieser Architekt deshalb weg musste, weil er sich für den 1949 in Deutschland neu gegründeten ostdeutschen Staat zu viel Mühe gegeben hatte. Er hatte nämlich einen Auftrag ergattert, aber im kommunistischen System herrschte Mangel ohne Ende. Es gab also keine Schrauben. Also dachte er: Fahr ich doch mal nach West-Berlin, besorge die Schrauben und dann kann der Bau beginnen.

Das fand das neue System der Weltbeglückung aber nicht so gut. Solche Verstöße gegen die Ordnung konnte man im kommunistischen Regelparadies nicht hinnehmen. Also waren ihm fünf Jahre Gefängnis angedroht worden, allerdings mit dem augenzwinkernden Hinweis, am Wochenende würden keine Leute verhaftet. Und das reichte ihm, um zu verschwinden.

Nachspiel

Leon war so im Fluss gewesen, dass er sogar einen Abschluss hingelegt hatte, den er doch lieber für sich behielt. Der lautete nämlich so:

Damit beschloss unser experimentierfreudiger Leser die Lektüre dieses Kapitels zu beenden. Wenn nicht gerade in der nächsten Stunde ein Text-Kenntnis-Test angesetzt war, würde er sich mit einigen intelligenten Bemerkungen gleich zu Beginn des Unterrichts sicherlich einen Freibrief für den Rest der Stunde  verschaffen.

Diesen letzten Satz hatte er sicherheitshalber aus der Fassung herausgenommen, die er bei Nachfrage der Lehrkraft geben konnte. Man sollte es auch bei fiktionalen Texten mit der Authenzität nicht übertreiben.

Am nächsten Tag kam es dann, wie es kommen musste. Herr Borgmann war unzufrieden mit der Beteiligung der Klasse, also ging er rum, um zu sehen, was bei den Lesetagebüchern herausgekommen war. In der Zeit sollten sie schon mal im Roman weiterlesen.

Als Leon an der Reihe war – dauerte es ein bisschen, bis er schließlich hörte: „Interessant, muss ich mir mal genauer anschauen. Aber warum „rettender Einfall?“ Leon war gleich wieder im Kreativ-Modus: „Also Herr Borgmann – das ist ja ein fiktiver Text – wenn also Fragen dazu auftauchen, ist halt der Leser gefordert. Denn „Kunst entsteht erst vollständig im Auge des Betrachters“. Volltreffer, denn das war der Satz, mit dem der gute Borgmann sie so ziemlich einmal in der Woche beglückte.

 

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