Anders Tivag, „Lied des Lebens“ oder: Wozu sind Volkslieder gut? (Mat7369)

Volkslieder funktionieren wie Songs – Versuch einer Verteidigung

Vorbemerkung:
Diese Kurzgeschichte ist entstanden, als man sich im Unterricht mit einem Volkslied von Brentano beschäftigte.

Näheres dazu und auch der Text des Liedes finden sich hier:
https://textaussage.de/brentano-der-spinnerin-nachtlied-support

Anders Tivag

Lied des Lebens

„Ja, ja, dein gutes Herz. Mach’s gut und erzähl mir später, was draus geworden ist. Ich muss los. Es klingelt.“

Das war das letzte, was Mia von ihrer Freundin Sophie hörte, nachdem sie ihr mal wieder ihr Herz ausgeschüttet hatte

Aber es war eben ihre Tante Eleonore, der sie einfach noch einen Gefallen schuldig war. Und so hatte sie sich darauf eingelassen, sie an diesem Abend zu Ihrem Literaturtreff mit ein paar Freundinnen zu begleiten. Da sollte es angeblich ganz lustig zugehen und vielleicht könnte sie ja auch für den Unterricht im Deutsch-Leistungskurs noch was lernen. Aber das hatte die Tante natürlich nicht ernst gemeint.

Jetzt saß sie mit ihr im Auto und hörte sich erst mal eine Art Einführung an.
„Du Mia, das ist echt toll. Das ist ganz anders als in Deutschunterricht. Da liest man gemeinsam etwas und kann sich dazu äußern, wie man will. Es gibt keine Bewertungen, sondern nur Austausch. Und am Ende Geht man schlauer raus, als man in die Veranstaltung reingegangen ist. Und –dabei lächelte die Tante süffisant – man fühlt sich sehr viel wohler als nach manchen Stunden im Deutschunterricht.

Dann waren sie auch schon da. Erst  ein paar Begrüßungssprüche nach dem Motto:
„o, du hast ja Verstärkung mitgebracht. Wie? Leistungskurs Deutsch? Da müssen wir ja richtig aufpassen.“
Und dann setzte man sich zu Tee und Gebäck, und ihre Tante übernahm die Präsentation des ersten Textes.

Es war ein Volkslied von Brentano mit dem schönen Titel „Der Spinnerin Nachtlied.“ Da musste Mia sich erst mal erklären lassen, was überhaupt eine Spinnerin ist. Sie kannte das Wort nur als Beschimpfung. Dann hatte sie auch schnell ein bisschen Mitleid mit dieser Frau aus der Zeit um 1800. Schwer arbeiten und der Mond – keine Lichtquelle für Verliebte, sondern einzige Lichtquelle, um spätabends noch arbeiten zu können.

Dann ging es los. Schon beim Vortrag der ersten Strophe merkte man, dass ihre Tante sich voll auf den Text einließ. Irgendetwas verband sie damit. Die Worte „vor langen Jahren“ und „da wir zusammen waren“ wurde auf ganz eigentümliche Art und Weise vorgelesen. Ja, sie stockte sogar einmal zwischendurch. Helga, eine Freundin ihrer Tante, die neben ihr saß, legte ihr sogar beruhigend die Hand auf den Oberarm. Was war das denn?

Dann gelang es ihrer Tante, sich wieder etwas zu beruhigen, erst bei der Zeile: „als du von mir gefahren“ war es zu Ende mit dem Vortrag. Ihre Tante setzte sich ohne weitere Bemerkung, und Helga übernahm den weiteren Vortrag, ohne dass das irgendwie weiter kommentiert wurde. Anscheinend war es ganz normal, dass hier manchmal gefühlsmäßig ganz schön was abging. Das war auf jeden Fall schon mal ein großer Unterschied zum Unterricht in ihrem Leistungskurs.

Während ihre Tante sich zunehmend beruhigte, wurde Mirjam, eine andere Freundin, immer unruhiger. Kaum war Helga fertig, legte Mirjam los:
„Ach, diese Volkslieder, da werden nur Reizworte gesetzt, mit dem Inhalt hat sich der gute Brentano auch nicht viel Mühe gegeben.“

Das ging Helga, die sich nach ihrem Vortrag mit einem Schluck aus ihrem Rotweinglas erholte, doch entschieden zu weit.
„Mirjam, jetzt bin ich aber gespannt. Immerhin ist Brentano ein berühmter Dichter der Romantik.“

Das brachte Mirjam aber nicht in Verlegenheit.
„Was heißt das schon. Es geht nicht darum, ob der Mann schöne Gedichte schreiben kann, es geht darum,was ein Volkslied d dieser Art leistet. Ist dir nicht aufgefallen, dass da nichts Konkretes enthalten ist. Diese Texte sind wie Drogen. Die sollen dich nur in einem bestimmten Zustand versetzen und dann fängst du an zu halluzinieren.“

Mias Tante merkte offensichtlich, dass diese Bemerkung zu einem richtigen Streit ausarten konnte. Also meinte sie nur beruhigend:
„Mirjam hat recht, auch wenn ich es anders formulieren würde.“

Und dann erzählte sie eine Geschichte, die deutlich machte, was dieses Volkslied bei ihr ausgelöst hatte.

Sie hatte vor vielen Jahren in Neapel einen jungen Amerikaner kennen gelernt. Die halbe Nacht hatten sie sich wunderbar unterhalten. Und in dem Garten, in dem sie saßen, war immer wieder ein Vogel zu hören gewesen. Der Amerikaner war Biologe, kannte sich aus und nannte ihr die englische Bezeichnung, die im Deutschen mit dem schönen Wort Spottdrossel übersetzt wird. sie hatten beide darüber gelacht, bis Jeremy auf seine Uhr guckte, und sagte, er müsse jetzt auf das Forschungsschiff zurück, sie würden am frühen Morgen in die Antarktis aufbrechen.

„ ich war so überrascht, und mein neuer Freund hatte es so eilig, dass wir nicht mal dazu kamen, irgendwelche Adressen auszutauschen. Smartphones und Ähnliches gab es damals noch nicht, vom Internet ganz zu schweigen. Er rief aus dem geöffneten Fenster des Taxis nur noch kurz: „Ich melde mich, wenn ich zurück bin.“ Er hatte nur vergessen, mich nach meiner Adresse zu fragen.

Das war’s und vielleicht versteht ihr jetzt, warum ich bei solch einem Volkslied mir mal ganz eigene Gedanken mache und die sind mit ein paar Gefühlen verbunden.“

Nach dieser Geschichte herrschte erst einmal einige Zeit lang Schweigen in der Runde, dann sagte Mirjam:
„Danke, du hast recht. Es tut mir leid, dass ich mich da so einseitig geäußert habe. Aber ich habe eben einen Sohn im Deutschunterricht und dort wird ganz anders über berühmte Texte aus früheren Zeiten gesprochen, nämlich eigentlich gar nicht. Das einzig Interessante war die Bemerkung einer Schülerin:
„Diese Volkslieder funktionieren doch genau wie die Songs, die wir heute gerne hören. Da achten wir doch auch nur auf die Schlüsselwörter und geben uns unseren Gefühlen hin.“

Den Rest der Veranstaltung bekam Mia nicht mehr so richtig mit. Sie beschloss, über diese interessante These mit ihrer Freundin zu diskutieren – und dann vielleicht zu überlegen, ob man nicht in Deutschunterricht ein bisschen mehr in Richtung eines solchen literarischen Abends verändern könnte. Man würde sehen.

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