Anders Tivag, „Manchmal reicht es …“
Wir präsentieren hier eine Kurzgeschichte, die Schülern und Schülerinnen Mut machen kann – einfach mal loszureden.
Denn auch hier gilt: Ein bisschen Übung führt zu mehr Selbstbewusstsein – und dann kommen Gedanken und Worte wie von selbst.
Dazu gibt es auch ein Video, in dem die Kurzgeschichte aber nur der Ausgangspunkt ist für Tipps, wie man bei spontanen Antworten besser klarkommt.
Vorschau auf die Kurzgeschichte – Druckversion weiter unten
Anders Tivag
Man muss nur die richtigen Leute kennenlernen
Nina saß in der letzten Reihe, die Schulmappe vor sich, die Hände nervös unter dem Tisch. Die erste Deutschstunde nach den Ferien – und sie fürchtete sich vor Frau Breuer. Die Lehrerin war bekannt dafür, plötzlich Fragen zu stellen, mit Vorliebe an Schüler, die gerade nicht aufpassten. Ninas größte Angst war, ins Leere zu starren, wenn sie aufgerufen wurde.
Doch heute war ein neuer Schüler in der Klasse: Jamie. Er wurde von Frau Breuer kurzerhand neben Nina platziert. Ein schlaksiger Junge mit dunklen Locken und einem ruhigen Gesichtsausdruck. Nina beobachtete ihn verstohlen und versuchte zu erraten, wie er wohl sei.
Noch war alles ruhig, und Nina begann, sich in Gedanken zu verlieren. Sie fragte sich, wie Jamie wohl reagierte, wenn er plötzlich etwas sagen musste. Plötzlich näherte sich Frau Breuer, aber nicht, um Nina aus ihren Gedanken zu reißen. Sie wandte sich direkt an Jamie.
„Jamie, vielleicht können Sie uns etwas über das Land erzählen, in dem Sie gelebt haben. Es wäre interessant zu hören, wie es Ihnen in Afrika gefallen hat.“
Jamie blinzelte kurz, nickte dann und begann zu sprechen. „Also, Afrika ist schon etwas Besonderes …“
Nina hörte kaum hin. Was sie fesselte, war nicht der Inhalt seiner Worte, sondern die Leichtigkeit, mit der Jamie sprach. Ein Satz führte zum nächsten, ohne Zögern, ohne Hektik. Es wirkte, als formten sich seine Gedanken im selben Moment, in dem er sprach. Frau Breuer unterbrach ihn schließlich, bedankte sich und lobte: „Seht ihr, so geht das. Jamie hat uns gerade ein gutes Beispiel gegeben.“
Die Stunde ging weiter, und bald folgte die kurze Pause. Nina zögerte kurz, drehte sich dann zu Jamie. „Das war… beeindruckend. Wie machst du das? Ich bekomme schon Panik, wenn ich nur daran denke, aufgerufen zu werden.“
Jamie lächelte. „Das habe ich geübt. An der Schule in Afrika haben wir einen Text von Kleist gelesen: Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Der hat mich inspiriert.“
„Und das funktioniert wirklich?“ fragte Nina skeptisch.
„Ja, aber es braucht Übung“, erklärte Jamie. „Es geht darum, ruhig zu bleiben. Fang mit einem allgemeinen Satz an, der immer passt. Zum Beispiel: ‚Das ist eine interessante Frage.‘ Dann denkst du an etwas, das dir spontan einfällt – wie in meinem Fall Afrika. Das führt zu einem zweiten Gedanken, zum Beispiel, wie man Afrika hier sieht. Und bevor du es merkst, hast du ein drittes Thema, wie es dort wirklich ist. So kam ich zu dem, was ich wirklich sagen wollte.“
Nina hörte fasziniert zu und bemerkte gar nicht, dass Frau Breuer zurückkam.
„Nina,“ sagte die Lehrerin plötzlich, „wollen Sie uns vielleicht verraten, was Sie so Spannendes mit Jamie besprechen?“
Nina schluckte. Jetzt ist es soweit, dachte sie. Doch dann hörte sie Jamies Stimme in ihrem Kopf: Fang mit etwas Allgemeinem an. Sie atmete tief ein.
„Eigentlich war das ja privat“, begann sie zögernd. „Aber es ging darum, wie beeindruckend es ist, dass Jamie so flüssig sprechen kann.“
Sie hielt inne, ließ den nächsten Gedanken aufsteigen. „Er hat mir erklärt, dass das daran liegt, dass er etwas aus Kleists Text gelernt hat. Und ich finde, das könnte für uns alle eine tolle Übung sein, um uns im freien Sprechen zu verbessern.“
Ninas Stimme wurde fester. Die Worte kamen fast von selbst, ein Satz führte zum nächsten. „Und gerade habe ich gemerkt, dass es erstaunlich gut funktioniert. Ich habe es einfach probiert.“
Mit diesen Worten endete sie – und bemerkte, wie ihre Mitschüler applaudierten. Frau Breuer nickte anerkennend.
„Sehr schön, Nina. Das war überzeugend.“
Nina lächelte unsicher, doch innerlich fühlte sie eine kleine Flamme der Zuversicht. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, einfach zu sprechen und den Gedanken beim Reden Raum zu geben. Und Jamie? Der zwinkerte ihr zu. „Siehst du? Es funktioniert.“
Druckdatei:
Mat899-text Anders Tivag Manchmal reicht es, zwei Leute kennenzulernen
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Übersicht über Texte von Anders Tivag
https://textaussage.de/anders-tivag-ein-schoenes-beispiel-fuer-einen-behelfsschriftsteller
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
—