Geiger, „Unter der Drachenwand“ – Problem der Posttraumatischen Störung des Protagonisten
… ausgehend von einer Charakterisierung der Hauptfigur des Romans
Daraus ergibt sich auch zugleich, dass es sinnvoll ist, die folgende allgemeine Liste mit entsprechenden Textstellen aus dem Roman zu verbinden. Wir werden das hier noch nachholen.
- Wir verwenden die E-Book-Ausgabe, die man zum Beispiel über Amazon beziehen kann.
- Damit die von uns genannten Seiten auch in der Schulausgabe gefunden werden können, haben wir eine Umrechnungstabelle erstellt, die man sich anschauen oder auch downloaden kann.
- Diese Tabelle nennt natürlich nicht für alle Textstellen genau die richtige Seite, aber man findet das entsprechende Zitat dann doch ziemlich schnell.
- Zu finden ist die Tabelle auf der Seite:
https://schnell-durchblicken.de/drachenwand-umrechnung-seitenzahlen
- Was das ist, merkt man sich am besten, indem man den Fachbegriff zerlegt:
- Zunächst ist es eine Störung des Seelenlebens, das sich auch auf den Körper auswirken kann.
- Hintergrund ist ein „Trauma“ = eine starke seelische Erschütterung, die im Untergrund noch lange nachwirken kann.
- Und „post“ besagt halt nur, dass es sich entsprechende Beschwerden auch nach der direkt erlebten seelischen Erschütterung noch lange auswirken können.
- Wie zeigt sich eine PTBS?
- Das Wiedererleben der Störungssituation
- in einer Art Tagtraum
Besonders gut ist das auf EB109 zu sehen, wo Veit davon spricht, er sei „verdrahtet mit der Tödlichkeit des Moments“ spricht.
Das heißt, das, was für jeden Menschen erst mal neutral ist, nämlich der jeweilige Moment des Lebens, ist für ihn mit „Tödlichkeit“ verbunden, eben früheren Erfahrungen. Sehr treffend ist auch das Bild des „Verdrahtet“-Seins, man ist gebunden, auf eine künstliche, lebensfremde Art und Weise. - Nachts in Angstträumen
- Aber auch das Gegenteil ist möglich, nämlich gezielte Vermeidungshaltungen
- Gleichgültigkeit
- fehlende Anteilnahme an der Umgebung bzw. am Leben anderer Menschen
- ggf. auch gezielte Vermeidung von Situationen, die Ähnlichkeit mit der Störungssituation haben.
- Unterschiedlich ist die Klarheit des Wiedererlebens, häufig erinnert man sich nur an Teile des früheren Erlebens.
- Typisch sind auch Formen der Übererregung des vegetativen Nervensystems
- allgemeine Reizbarkeit
- intensive Wachsamkeit
- mit entsprechender Schreckhaftigkeit
- Ganz allgemein auch Konzentrationsschwierigkeiten
- Typische Ausgangssituationen
- Gewalterlebnisse, z.B. Vergewaltigung
- Kriegserlebnisse
- Naturkatastrophen
- Unfälle
Kommen wir nun zu Textstellen, in denen im Roman diese Störung besonders deutlich wird:
Die erste Nacht in Mondsee bei der Quartiersfrau
- EB 25:
- „In der ersten Nacht glaubte ich vor Kälte umkommen zu müssen. Ich überwachte ständig das Feuer und warf mehrmals Holz nach, aber die Wärme ging direkt in das schlecht verlegte Rohr und in den Kamin.“
- Anmerkung: Dies ist erst mal nur wichtig für die Klärung der Situation.
- „Mehrfach bellte der Hund, ein wütendes Bellen, das mir durch Mark und Bein drang. Noch immer passierte es bei solchen Anlässen, dass mein Körper von einer Sekunde auf die andere in einen akuten Alarmzustand wechselte. Dann dauerte es eine halbe Stunde, bis mein Herz wieder normal schlug.“
- Anmerkung: Hier wird wieder deutlich, in welchem stets präsenten Alarmzustand jemand ist, der 5 Jahre mehr oder weniger ständig in Lebensgefahr war.
- „Ich lag wach, mit weit aufgerissenen Augen, lauschte auf die Mäuse, die durchs Zimmer rannten, dachte an denjenigen, der sich meiner hoffentlich nicht erinnerte: an den Krieg. Bestimmt war er ganz in Anspruch genommen von seinen weltlichen Freuden.“
- Anmerkung: Hier zeigt sich, wie so ein Schreckerlebnis nachwirkt. Deutlich wird aber auch, wie das fast schon humoristisch, auf jeden Fall satirisch-distanziert verarbeitet wird.
Der automatische Griff zum Gewehr und das Hochkommen der Erinnerung an einen platzenden Ofen:
EB 29:
- „In dem Haus, in dem ich jetzt wohnte, stieg ich die irregulären Stufen hinauf und trat in den kalten Raum, den man mir zuge- wiesen hatte. In einem noch von der Front stammenden Automatismus wollte ich das Gewehr ablegen und erschrak, als ich den Riemen an der Schulter nicht fand. Ich hatte weiche Knie und zitterte, für einen Moment war alles aufgehoben, Zeit, Distanz, es gab kein Dazwischen, nichts, was mich beschützte.“
- Anmerkung: Hier wird zunächst einmal deutlich, wie eine einfach körperliche Routine (Gewehr ablegen) Schrecken auslöst. Der Körper hat in dem Moment nicht parat, dass man eben nicht mehr an der Front ist.
Es gibt später noch einmal eine parallele Situation:
EB57: „Als ich die Zeller Ache überquerte, zuckte ich zusammen: Wo ist mein Gewehr? Wo ist mein Tornister? Beide führten irgendwo im Osten ein Eigenleben, und nur die Gewohnheiten waren mir nach Mondsee gefolgt, um mich hier zu erschrecken.“
Vgl. die Parallel-Situation auf EB29:
— - „Bruchstücke der Vergangenheit fielen auf mich herunter und begruben mich, es war, als müsse ich ersticken. / Als ich wieder zu mir kam, rang ich um Atem. Mit wildem Herzklopfen setzte ich mich aufs Bett. War das ein Anfall? So was hatte ich bisher noch nie. Ich war ziemlich beunruhigt. Und ich war erstaunt, ich konnte mich nicht erinnern, dass ich den Krieg als so furchtbar empfunden hatte, als ich dort gewesen war, schlimm genug, aber nicht so schlimm. /“
- Ein bisschen besser ging es mir, als mir einfiel, wohin das Gesicht der Frau gehörte, das ich gesehen hatte. Es war das Gesicht der Russin, bei der wir gewohnt hatten, als in der Nacht der Ofen geplatzt war, das Strohdach fing sofort an zu brennen, im letzten Moment brachte ich mich mit einem Sprung durchs Fenster in Sicherheit. Verbrennen stell ich mir furchtbar vor. /“
Anmerkung: Hier wird deutlich, dass im Kopf eines traumatisierten Menschen der Auslöser in keinem direkten Zusammenhang mit dem stehen muss, was dann hochkommt. Hier ist es ein Erlebnis von der Front, bei dem der Soldat möglichst direkt nach seinem Gewehr greifen muss, bevor er sein Leben durch einen Sprung aus dem Fenster rettet. Dann geht es um die Angst, die man damals ausgestanden hat und die zu dieser Trauma-Reaktion führt.
— - „Nachher standen wir draußen, einige ohne Feldblusen und Mäntel, sechs Mann ohne Stiefel. Und die Frau plärrte, ja, gut, schön war es nicht, dass die Hütte brannte, aber Schuld hatten wir auch keine. Eine einzige, riesige rote Flamme loderte in der Eisluft, an den Rändern der Flamme etwas Trübes, als würde sie Feuchtigkeit ausdampfen. / Den Namen der Frau wusste ich nicht, ich erinnerte mich aber an den Namen des Ortes: Jawkino. Um mich abzulenken, heizte ich ein. Ich war schweißbedeckt und schnaufte vor Erschöpfung.“
Anmerkung: Hier wird deutlich, wie die Soldaten durch so ein Ereignis plötzlich in eine schwierige Situation kommen – man denke an Kälte und die Gefahr von Erfrierungen. Interessant, wie intensiv Einzelheiten und entsprechende Eindrücke bzw. Assoziationen noch erinnert werden.
Am Ende dann die langsame Beruhigung, erreicht durch Ablenkung, aber bezahlt durch Erschöpfung.
Erinnerung an einen umkippenden Kamin
- EB 113:
- “ Auf einmal, ich weiß nicht. ob es an einem Geräusch in der Luft lag oder an meiner Stimmung, hatte ich wieder einen Anfall. Wie eine Sturzwelle kamen die Bilder und spülten mich in den kalten Schacht namens Krieg, geballt empfand ich alle Erniedrigungen des Sterbens, überzeugt, diesmal erwischt es mich, jetzt hat mich mein Glück endgültig verlassen, gleich geht das Licht aus.
Anmerkung: Typisch ist hier wieder das Überraschende, Plötzliche eines solchen Anfalls, der das freisetzt, was unterschwellig in den Erinnerungen vorhanden ist. - „Der verloren aufragende Kamin in Schitomir kippte wieder langsam nach vorn und fiel genau auf mich zu, Granaten pfiffen, ich war verdrahtet mit der Tödlichkeit des Moments, es schnürte mir die Luft ab, und deutlich sah ich die in die Grube geschossenen Leiber.“
Anmerkung: Hier geht es um eine sehr konkrete Erinnerung an einen lebensgefährlichen Moment, interessant die Wendung „verdrahtet mit der Tödlichkeit des Moments“. Sie macht deutlich, dass es eben eine intensive, individuelle Verbindung für Veit gibt zwischen einem Ereignis und einer Gefahr, die zum Schrecken wird. - „Es waren ungemein kraftvolle Bilder, während ich selbst in die Knie ging, in den Schnee, minutenlang. Die Anflutung war extrem, schlimmer als je zuvor, ich schnappte nach Luft, einmal vornübergebeugt, dann mich streckend.“
Anmerkung: Hier kommt langsam Distanz auf, verbunden mit Reflexion. Der betroffene Mensch fängt an, sich gewissermaßen von außen zu sehen.
Angst um Margot
- EB 225:
- „Spätestens ab Mitte des Nachmittags war ich alle zehn Minuten zum Fenster gegangen und hatte nach Margot Ausschau gehalten, es wurde immer später, ich war wie auf Nadeln und bekam furchtbare Angst. Nach dem Baden des Kindes und dem unver- meidlichen Weinen war’s komplett aus mit mir, und ich rührte mich nicht mehr weg vom Fenster. Es wurde mir wieder ganz komisch.“
Anmerkung: Hier kommt kein plötzlicher Anfall, sondern Sorge und Angst führen gewissermaßen zu einer Situation der Schwäche, in die der Anfall dann hineinplatzen kann. - „Um mich zu beruhigen, machte ich mir einen Tee. Aber während der Tee zog, überkam mich der Gedanke, Margot könnte tot sein. Und da überfiel mich plötzlich eine Bilderattacke der Stärke zehn, und ich begann zu schwitzen, Erinnerungsbilder aus Russland mischten sich mit Phantasiebildern aus Mondsee. Russland und Mondsee berührten einander, griffen ineinander wie das Wurzelwerk zweier Bäume, es war unmöglich, die Bilder zu entflechteri und wegzuschieben, ich verfing mich immer mehr. Der Schweiß tropfte mir von der Nase.“
Anmerkung: Interessant ist hier zum einen der Versuch der Selbst-Beruhigung. Dieser scheitert und dann wird wieder sehr eindrücklich beschrieben, wie so ein Anfall abläuft. - „Zum Glück hatte ich das Kind zu diesem Zeitpunkt schon schlafen gelegt, ich nahm ein Pervitin, das Kind schlief lautlos, ebenfalls wie tot, ich berührte es mehrmals. Und während ich wartete, dass die Wirkung des Pervitins eintrat, war ich mit meinen Gespenstern allein. Nun ist das Abendbrot vorbei. Margot ist ganz durchnässt und halb erfroren nach Hause gekommen mit fünf Litern Heidelbeeren. Schon als sie die Tür aufmachte, sah ich, wie sehr sie sich freute, mich zu sehen. Ich berichtete ihr, dass ich mindestens dreißigmal zum Fenster hinausgeschaut hätte, ob sie schon käme. Sie meinte, es sei ein wunderbarer Tag gewesen.“
Anmerkung: Hier kommt nun das besondere Medikament ins Spiel, das im Roman eine große Rolle spielt. Zu Pervitin ließe sich gut ein Referat erstellen. Interessant danach der Unterschied zwischen Margot, die real unangenehmes Wetter erlebt hat, was ihre Stimmung aber nicht trübt. Und im Gegensatz dazu ein Mann, bei dem äußerlich alles in Ordnung ist, aber innerlich warten Gespenster nur auf ihren Einsatz.
Nachtrag: Der Onkel und seine traumatischen Erinnerungen an Ereignisse des I. Weltkrieges
Nachtrag: Der Onkel und seine traumatischen Erinnerungen an Ereignisse des I. Weltkrieges
- Onkel erzählt vom I. Weltkrieg und seinen eigenen bleibenden Erfahrungen, „alles im Körper gespeichert“ (EB244)
- Lektüretipp (EB243/244)
- „Nachher gestand mir der Onkel, dass auch er lange unter plötzlich zurückkommenden Erinnerungen gelitten habe,
- aber irgendwann seien sie ausgeblieben, ich solle mir keine Sorgen machen.
- In den Jahren sechzehn, siebzehn sei er in den friulischen Alpen gestanden, einige Zeit in der Bascon-Stellung, Nähe Malborgeth, dort habe er sich das Rauchen angewöhnt. Die Italiener seien in einer Scharte am Monte Piper und am Zweispitz gestanden.+
- Oft habe er nachts Feldwache gehalten, auf diesen Feldwachen sei man ein armer Teufel gewesen, denn jeden Augenblick habe eine Lawine einen ins Tal fegen können, und das sei oft passiert.
- Nach dem Krieg habe er manchmal ein Geräusch gehört, und in plötzlicher Panik sei ihm das Gefühl durch den Körper gefahren, jetzt kommt die Lawine, alles aus und vorbei. /
- Er blickte auf und schaute mich traurig an.
- Ich hielt seinem Blick für drei oder vier Sekunden stand.
- Da senkte der Onkel den Kopf und sagte: Das ist alles im Körper gespeichert.“
- Interessant ist hier, dass der Onkel davon ausgeht, dass im Laufe der Zeit solche Körper-Erinnerungen auch ausbleiben können. Das ist natürlich eine gute Nachricht, was den am Ende überlebenden Veit angeht – zumindest kann der Leser diese Stelle so lesen.
Nachtrag: zwei wichtige Zitate, die zeigen, was Veit mit Margot zusammen geschafft hat im Hinblick auf seine PTBS
- EB372: Veit hat Probleme mit dem blutigen Fleisch in dem Geschäft, aber er hat sich erkennbar weiterentwickelt und kommt damit inzwischen klar:
„Und während der Fleischhauer und Margot sich unterhielten, ließ sich die Bilder kommen, ich war bereit, sie anzunehmen als etwas, das mir Dinge zeigte, die man kennen muss. Und auch, dass ich in meiner Angst nicht allein war, machte es leichter.“ - EB373: Als Margot jetzt ein neues Zimmer bezieht, das er als Basis für eine zukünftige Gemeinsamkeit ansieht, stellt Veit fest:
„In dem Moment, in dem ich durch die Tür trat, spürte ich, dass ich mich von etwas losgerissen hatte und endlich ein eigenes Leben besaß.“
Übertragung der Frage auf die Zivilbevölkerung
Man kann die Frage nach den psychischen Folgen des Krieges auch auf die Zivilbevölkerung ausweiten.
- Deutlich wird das zum Beispiel im ersten Brief von Margots Mutter:
EB73: „Wir wir haben täglich, an manchen Tagen auch zweimal Alarm, fehlt nur, dass sie auch zum Frühstück kommen, das geht recht über die Nerven, und ich versuche, wenigstens nach außen hin ruhig zu sein. In jedem Quietschen der Gartentür, in jedem Weinen eines Säuglings hört man eine Sirene. Jedes Geräusch prüft man, ob es der Kuckuck ist.“
Weiterführende Recherchen und Themen für Referate
- Interessanter Spiegel-Artikel über „verhärmte Seelen“ nach den beiden Weltkriegen:
https://www.spiegel.de/geschichte/kriegstraumata-bei-soldaten-verhaermte-seelen-a-ff2c304f-c6de-4cb7-8f9c-321cc307e60b - Beispiel Amerikanische Soldaten, die aus dem Vietnamkrieg zurückgekehrt sind.
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/63589/Vietnam-Einige-US-Veteranen-leiden-noch-immer-unter-einer-posttraumatischen-Belastungsstoerung
- Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan zum Beispiel Selbstmordattentate erlebt haben.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-07/ptbs-soldaten-bundeswehr-psychische-probleme-therapie?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
- Polizisten und Rettungskräfte, die als erste an einem Unfallort sind und dort Schreckliches durchleben müssen.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/traumatisierte-polizisten-als-waere-die-sicherung-rausgesprungen/24083950.html
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Infos, Tipps und Materialien zum Rroman „Unter der Drachenwand“
https://schnell-durchblicken.de/themenseite-roman-unter-der-drachenwand
— - Zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos
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