Euripides, „Medea“ – so steigt man schnell ein – Sagenhintergrund und Monolog der Amme(Mat2690-einstieg)

Uralter Text – wie steigt man schnell ein?

  • Im Deutschunterricht kann man es immer wieder erleben, dass Texte gelesen werden (müssen), die ziemlich alt sind. Da hat man auch Schwierigkeiten mit dem Verständnis.
  • Das gilt schon für Goethes „Faust“, der vor etwa 200 Jahren geschrieben wurde.
  • Und manchmal greift man sogar auf altgriechische Dramen zurück. Zum Beispiel auf ein Stück mit dem Titel „Medea“ von Euripides.

Zu unserer Quelle für diese Lektüre

Diesen Punkt kann man natürlich überspringen, wenn man eine Buchausgabe hat und damit zufrieden ist. Für Zitate kann es aber nützlich sein, z.B. auf die Internet-Ausgabe zurückzugreifen.

  • Natürlich liest man das im Deutschunterricht nicht in altgriechischer Sprache. Aber die Ausgabe, die wir hier nutzen, stammt immerhin aus dem 19. Jhdt – angeblich von 1848. Den Text kann man zum Beispiel im Internet hier finden.
    Quelle:
    Griechische Tragiker: Aischylos, Sophokles, Euripides. München 1958, S. 632-673.
    Aufführung 431 v. Chr. in Athen. Hier nach der Übers. von J.A. Hartung in: Griechische Tragiker, hg. v. Wolf Hartmut Friedrich, München (Winkler) 1958.
    Permalink:
    http://www.zeno.org/nid/20004748433
  • Es gibt den Text auch als recht gutes Hörbuch bei Audible:
    – Medea von Euripides
    https://lesen.amazon.de/kp/kshare?asin=B01GGFHT42&id=thgrr2eifrdjphjuxfvrctqs3
    Dazu passt eine Kindle-EBook-Version, die wir recht günstig parallel erworben haben.
    Medea Kindle Ausgabe: von Euripides (Autor), Johann Adam Hartung (Übersetzer) Format: Kindle Ausgabe (Hofenberg Digital)

Tipp 1: Basis-Infos zu der Lektüre

  • Dann versteht man manches leichter.
  • Wir haben hier z.B. am 13.8.24 die folgende Wikipedia-Seite ausgewertet:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Medea_(Euripides)
  •  Folgendes erschien uns wichtig:
    • Im Jahre 431 v. Chr. verfasst. Das war noch die Glanzzeit des alten Athen. Im gleich Jahr begann der Peloponnesische Krieg gegen den Hauptgegner Sparta, was den Niedergang Athens einleitete. (Dies nur zur ungefähren Orientierung, die reinen Jahreszahlen bringen nicht viel).
    • Basis für das Stück ist die sogenannte „Argonautensage“:
        1. Die Argonautensage erzählt die Geschichte von Jason und seinen Gefährten, den Argonauten, die auf dem Schiff Argo nach Kolchis reisen, um das Goldene Vlies zu erlangen.
        2. In Kolchis angekommen, erhält Jason Unterstützung von Medea, der Tochter des Königs Aietes, die sich in ihn verliebt und ihm mit ihren magischen Kräften hilft, das Vlies zu erlangen.
        3. Sie verliebt sich in Jason, nimmt für eine erfolgreiche gemeinsame Flucht ermordete sie sogar ihren kleinen Bruder, indem sie ihn zerstückelt und den königlichen Vater durch das Einsammeln der Leichenteile aufhält (tja, so brutal ging es in den griechischen Sagen zu).
        4. Medea heiratete dann Jason und lebte mit ihm in Korinth. Nach der bekanntesten Version der Sage bekamen die beiden zwei Söhne – und als Jason sich dann in eine andere Frau verliebte, brachte Medea aus Rache sogar die Kinder um. Und damit haben wir den Anschluss an das Stück von Euripides erreicht.
        5. Anmerkung: Es ist erstaunlich, dass eine so entsetzliche Geschichte auch heute noch  im Deutschunterricht behandelt wird. Vor allem, wenn die „gute“ Frau am Ende straflos entkommen kann – und mit der Trauer Jasons auch noch Erfolg mit ihrer Rache hat.

Lektüre-Guide: Einstieg in den Text

  • Jeder kennt das: Der Anfang ist meistens der schwerste Schritt. Es dauert, bis man sich ein wenig zumindest eingelesen hat.
  • Wir präsentieren deshalb hier den Anfang des Dramas von Euripides und erklären die Sinnabschnitte jeweils. Quelle ist die oben erwähnte Internet-Version:

Nun der Text, von uns in kursive Schrift gesetzt und durchnummeriert. Die Erläuterungen erfolgen eingerückt.

  1. Vor dem Hause Jasons zu Korinth.
    • Typisch für das altgriechische Drama findet alles an einem Ort statt – ohne Bühnenumbau und ähnliches.
    • Dann hat man eine gute Vorstellung, wie das in einem griechischen Theater aussah, wenn jemand zu Beginn in den Vordergrund tritt und eine Ausgangssituation schafft.
    • Nähere Infos mit Skizzen findet man hier.
  2. AMME.
  3. Oh, wäre durch die schwarzen Wunderfelsen nie
  4. Das Schiff geflogen, steuernd nach dem Kolcherland,
  5. Wär auf den Waldhöhn Pelions nie der Fichtenstamm
  6. Durchs Beil gefallen, hätte nie zum Steuer gedient
  7. Der Hand erkorner Helden, die das goldne Vlies
  8. Dem Pelias holten! Nimmermehr wär auch geschifft
  9. Medea, meine Herrin, dann zur Griechenstadt,
  10. Von Jasons Liebe hingerissen und betört,
  11. Und hätte Pelias‘ Töchter nie zum Vatermord
  12. Verführt und wohnte nicht im Land Korinthos hier
  13. Mit Mann und Kindern – bei den Bürgern zwar beliebt,
  14. In deren Land sich niederließ die Fliehende,
  15. Und treu zur Seite Jason stehend überall,
  16. Worauf die Wohlfahrt allermeist im Haus beruht,
  17. Wenn mit dem Manne einträchtig wirkt des Weibes Sinn. –
    • Wortreich stellt sich die Amme vor, was alles bis zum Schiffbau hätte nicht geschehen dürfen, damit die schrecklichen Ereignisse nicht stattfinden.
    • Dann wird näher auf die Vorgeschichte eingegangen, nämlich die gemeinsame Flucht Medeas mit Jason, aus einer „betörenden“ Liebe heraus. Dieses Urteil ergibt sich aus dem nachträglichen Fremdgehen Jasons.
    • Was die Ermordung des Pelias angeht, ist das ein weiteres Verbrechen dieser Frau. Denn Jason hatte das Vlies geholt, weil er dafür einen Königsthron bekommen sollte. Das wurde ihm von diesem Pelias verweigert – und so griff Medea mal wieder auf ihren Zerstückelungstrick zurück ( war wohl ihre Spezialität). Den Töchtern erzählte sie: zerstückeln, kochen – das verjüngt den Vater. Sie demonstrierte das erfolgreich an einem Widder – allerdings mit speziellen Kräutern, die sie bei Pelias wegließ – mit verhängnisvollen Folgen für ihn. Rache war geglückt.
    • Bevor es jetzt gleich ins Negative geht, wird noch betont, dass diese Medea bei den Bürgern von Korinth sehr beliebt war und gut mit ihrem Mann harmonierte. Das ist natürlich typisch für das Fallhöhen-Konzept der altgriechischen Tragödie: Je höher erst mal jemand steht, umso tiefer kann er hinterher fallen – und das löst positive Wirkungen bei den Zuschauern aus. Die erkennen, dass die Götter großes Glück auch zerstören können und opfern ihnen dann umso lieber und fallen nicht negativ auf.
  18. Doch nun ist alles feindlich, und das Leben siecht,
  19. Weil Jason meine Herrin samt den Kindern hat
  20. Im Stich gelassen und die junge Fürstin freit,
  21. Die Tochter Kreons, der in diesem Land gebeut.
    • Nun also der erwartete Absturz.
    • Alles ist „feindlich“ und das Leben „siecht“, ist krank.
    • Denn der Ehemann ist auf Karrieretrip und verrät seine Familie zugunsten der Tochter des Königs von Korinth. Sieht nach einer Geschichte aus, die heute auch jederzeit passieren kann.
  22. Und sie, das unglückselige, frech verschmähte Weib,
  23. Medea, ruft die Eide, ruft der Treue Pfand,
  24. Den Bund der Hände, rufet laut der Götter Macht
  25. Zu Zeugen, wie von Jason ihr vergolten sei.
    • Was macht Medea?
    • Sie klagt und wendet sich dabei sogar an die Götter. Bei den alten Griechen durchaus üblich.
  26. Dem Schmerze hingegeben, ohne Speise liegt
  27. Sie da, verzehrt in Tränen sich die ganze Zeit,
  28. Seitdem sie weiß, verraten sei sie vom Gemahl.
  29. Das Auge nicht aufschlagend noch vom Boden je
  30. Das Antlitz hebend, hört auf Freundeswort und Trost
  31. Sie minder als der Felsen, als die Welle im Meer;
    • Jetzt geht es eher wieder in die Richtung, die auch heute möglich wäre in Medeas Situation.
    • Sie isst nichts mehr, weint nur, schaut niemanden mehr an und hört auch nicht auf die guten Ratschläge anderer.
    • Die Frau ist völlig blockiert durch das, was ihr Mann ihr angetan hat.
  32. Nur daß mitunter, wendend ihren blassen Hals,
  33. Sie für sich selber um den trauten Vater stöhnt,
  34. Um Haus und Heimat, die sie einst verriet und floh,
  35. Dem Manne folgend, der ihr mit Verschmähung lohnt
    • Jetzt kommt das, was naheliegt.
    • Medea begreift, dass sie umsonst zu einer Verbrecherin und Verräterin an der eigenen Familie geworden ist.
    • Jetzt stöhnt sie sogar bei dem Gedanken an „den trauten Vater“: Sie fantasiert sich hier in die schöne Normalität vor der Jason-Geschichte zurück.
  36. Erkannt an ihrem Leide hat die Arme nun,
  37. Wie glücklich ist, wer Herd und Heimat nicht verließ!
    • Das wird hier noch erweitert.
    • Ihre Vergangenheit erscheint ihr im schönsten Licht,
    • was ihren Schmerz natürlich noch vergrößert.
  38. Die Kinder haßt sie, freut an ihrem Blick sich nicht –
  39. Sie brütet, fürcht ich, über etwas Schrecklichem!
    • Jetzt kommt das, was in der Situation passieren kann.
    • Die Kinder werden jetzt zu einem Objekt des Hasses. Medea verbindet sie mit Jasons Verrat – auch wenn sie dafür gar nichts können.
    • Es reicht, dass sie auch Jasons Kinder sind, um „über etwas Schrecklichem“ zu brüten, sich also auszudenken.
  40. Ihr Herz ist schlimm, und Unrecht wird es nimmermehr
  41. Ertragen; ja, ich kenne diese und fürchte sehr,
  42. Sie stößt sich durch die eigne Brust den scharfen Stahl,
  43. Ermordet wohl den Kreon samt dem Bräutigam
  44. Und ladet dann noch größres Unheil auf ihr Haupt.
  45. Denn schrecklich ist sie, und den Sieg gewinnt so leicht
  46. Kein Gegner, der zum Kampf mit ihr anbinden mag.
    • Hier drückt die Amme jetzt das aus, was sie sich unter Schrecklichem vorstellt.
    • Nämlich dass sie sich ermordet, nachdem sie ihren Mann und auch den König von Korinth umgebracht hat.
    • Damit wird eine gewisse zumindest mögliche verbrecherische „Normalität“ aufgebaut, die dann durch das, was real kommt, noch übertroffen wird.
    • Wieder ein Beispiel, wie die griechische Tragödie auf „Fallhöhe“ setzt. 
    • Statt dass die Mutter sich selbst im Schmerz umbringt (am ehesten verzeihlich)
    • oder sich an ihrem Mann direkt rächt
    • oder sogar den König einbezieht, von dessen Mitschuld keine Rede ist
    • kommt etwas noch Schlimmeres.
    • Und hier ist der Dramendichter so raffiniert, den Monolog der Amme zu verlassen und die Personen auftreten zu lassen, bei denen die Kenner der Sage schon Bescheid wissen.
  47. Doch von der Rennbahn kommen nach beendigtem
  48. Spiel hier die Knaben, von der Mutter Ungemach
  49. Nichts ahnend. Harmlos ist der Jugend muntrer Sinn!
    • Eben noch großer Schmerz und auch schon Hass.
    • Jetzt komme die beiden Jungs, die mit der ganzen Problematik direkt nichts zu tun haben – es heißt ja, sie sind „Nichts ahnend“
    • und sie beherrscht ein „muntrer Sinn“, d.h. sie sind nach der Spielstunde guter Dinge.
    • Und ihr Sinn ist „harmlos“. Gemeint ist damit: „ohne Harm“, d.h. ohne Kummer und Sorgen.
    • Man ahnt schon, dass sich das gleich ändern wird, wenn diese „Harm-losigkeit“ auf den Hass der Mutter trifft.
    • Fazit:
      Das Stück mag ja alt sein und auch nicht gleich sprachlich verständlich. Aber mit Dramatik kannten sich Leute wie Euripides und die alten altgriechischen Dramendichter schon ganz gut aus.

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