Goethe, „Vermächtnis“ – ein Gedicht, das man nur mit Kommentar versteht (Mat811-ha)

  • Es ist gut, wenn im Deutschunterricht auch bei Gedichten deutlich gemacht, dass man einige nur mit wissenschaftlichem Kommentar verstehen kann.
  • Goethe zum Beispiel hat kurz vor seinem Tod ein Gedicht verfasst, das nicht nur „Vermächtnis“ heißt, sondern auch zentrale Gedanken seiner Lebens- und Weltanschauung umfasst.
  • Die breitet er verständlicherweise nicht in ihrer Entstehung und in den Einzelheiten aus, sondern er bringt sie auf den Punkt, auf die knappestmögliche Form.
  • Wir haben hierzu einfach einen Sonderband der sog. „Hamburger Ausgabe“ verwendet – und da hat der Herausgeber, Erich Trunz, immerhin etwa vier Seiten für nötig erachtet. Nur so konnten die wichtigsten Hintergründe deutlich gemacht werden.
    Die Details:
    Goethe, Johann Wolfgang von: Gedichte. Hrsg. und Kommentiert von Erich Trunz. Einmalige Jubiläumsausg. zum 250. Geburtstag Goethes am 28.8.1999. München, Beck, 1999
    ISBN 3-406-45215-9

Wir präsentieren hier zunächst das Gedicht und verweisen dann auf das, was man gesagt bekommen müsste, um es zu verstehen.

Das Gedicht ist hier zu finden:
Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 541-542.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004842871

Johann Wolfgang von Goethe

Vermächtnis

  1. Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
  2. Das Ew’ge regt sich fort in allen,
  3. Am Sein erhalte dich beglückt!
  4. Das Sein ist ewig: denn Gesetze
  5. Bewahren die lebend’gen Schätze,
  6. Aus welchen sich das All geschmückt.
    • Hier formuliert Goethe ein Grundverständnis der Welt und besonders des Lebens.
    • Er spricht sich damit deutlich gegen jeden Nihilismus aus, eine Vorstellung, die auch vom Nichts und damit der Bedeutungslosigkeit aller Dinge ausgeht.
    • Aber im Kommentar wird darauf hingewiesen, dass es hier nicht um das Überleben von Ganzheiten, Wesenheiten geht, nicht unbedingt individueller Personen.
    • Grundsätzlich glaubte Goethe, dass alles sowieso Wandlungen unterworfen ist – aber das Wesentliche weiterexistiere.
    • Am Ende dann Überlegungen, dass es eigentlich die Natur ist, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ihre „Schätze“ verwaltet und weiterentwickelt.
  7. Das Wahre war schon längst gefunden,
  8. Hat edle Geisterschaft verbunden;
  9. Das alte Wahre, faß es an! Verdank es,
  10. Erdensohn, dem Weisen,
  11. Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
  12. Und dem Geschwister wies die Bahn.
    • Das versteht man nur, wenn man weiß, dass die Zeile 7 sich auf das heliozentrische Weltbild des Kopernikus bezieht, das schon in der Antike Vorläufer hatte, die sich aber nicht durchsetzen konnten.
    • Diesen „Weisen“ soll man dankbar sein – und eben auch das Alte würdigen.
  13. Sofort nun wende dich nach innen,
  14. Das Zentrum findest du dadrinnen,
  15. Woran kein Edler zweifeln mag.
  16. Wirst keine Regel da vermissen:
  17. Denn das selbständige Gewissen
  18. Ist Sonne deinem Sittentag.
  19. Den Sinnen hast du dann zu trauen,
  20. Kein Falsches lassen sie dich schauen,
  21. Wenn dein Verstand dich wach erhält.
  22. Mit frischem Blick bemerke freudig,
  23. Und wandle sicher wie geschmeidig
  24. Durch Auen reichbegabter Welt.
    • Hier wird Goethes Optimismus deutlich – er traut den „Sinnen“ des Menschen viel zu.
    • Das hängt mit seiner Vorliebe für die Anschauung zusammen. Er ging von den Dingen aus und nicht von irgendwelchen Theorien wie Schiller.
    • Allerdings traute er dem Verstand dann auch zu, mit den Erfahrungen der Sinne angemessen umzugehen.
    • Wir sind da heute – und vor allem seit Sigmund Freud – sehr viel skeptischer.
  25. Genieße mäßig Füll und Segen,
  26. Vernunft sei überall zugegen,
  27. Wo Leben sich des Lebens freut.
  28. Dann ist Vergangenheit beständig,
  29. Das Künftige voraus lebendig,
  30. Der Augenblick ist Ewigkeit.
    • Hier spielt Goethe auf Traditionen an, die vor allem im Mittelalter, aber auch schon in der Antike eine große Rolle gespielt haben.
    • Es geht um die Mahnung, bei allem das rechte Maß im Auge zu behalten.
    • Der Rest der Strophe macht deutlich, dass Vergangenheit und Zukunft nur in besonders günstigen Situationen erkennbar sind und ansonsten uns Menschen nur der „Augenblick“ gehört.
  31. Und war es endlich dir gelungen,
  32. Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
  33. Was fruchtbar ist, allein ist wahr –
  34. Du prüfst das allgemeine Walten,
  35. Es wird nach seiner Weise schalten,
  36. Geselle dich zur kleinsten Schar.
    • Hier stellt Goethe einen für ihn wichtigen Zusammenhang dar – nämlich den zwischen „wahr“ und „fruchtbar“. Dabei geht es beim ersten Begriff nicht um logische Wahrheit, sondern um Wahrhaftigkeit, das von „innen Erfüllte, Geist Gewordene“ – so heißt es im Kommentar von Trunz.
    • Am Ende dann eine Skepsis gegenüber der großen Masse und auch der Mehrheit. Goethe vertrat stark den Gedanken, dass Wahrheiten eher von Einzelnen oder kleinen Gruppen vertreten werden.
    • Auf jeden Fall ist das eine Ermutigung für alle, die etwas aus guten Gründen vertreten, was von der Mehrheit erst mal abgelehnt wird.
  37. Und wie von alters her im stillen
  38. Ein Liebewerk nach eignem Willen
  39. Der Philosoph, der Dichter schuf,
  40. So wirst du schönste Gunst erzielen:
  41. Denn edlen Seelen vorzufühlen
  42. Ist wünschenswertester Beruf.
    • Am Schluss geht es um Philosophen und Dichter, die nach Goethe ein „Liebewerk“ geschaffen haben – und zwar nach eigenem Willen.
    • Hier verweist Trunz auf eine Textstelle auf Wilhelm Meisters „Lehrjahren“:
    • Es ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die sie haben wollen, und nicht die, die sie haben sollen.“
    • Quelle: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7, Hamburg 1948 ff, S. 313-315.
    • Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004855019
  • Am Schluss dann eine schöne Formulierung für den „Beruf“, also das Wesentliche der Tätigkeit von Schriftstellern:
    „Denn edlen Seelen vorzufühlen / Ist wünschenswertester Beruf.“
    Es geht also darum, „edlen Seelen“ gewissermaßen einen Dienst zu erweisen, nämlich etwas „vorzufühlen“, das sie dann gerne aufnehmen.

Weitere Infos, Tipps und Materialien