Worum es hier geht:
Kimia Tivag
Das letzte Gedicht
Kurzgeschichte über die Chancen des Weiterschreibens
Es war ein warmer Tag im Mai, als seine Hände zum letzten Mal über die Tastatur glitten. Die Worte standen noch auf dem Bildschirm, schlicht, fast zufällig:
»Ein leerer Parkplatz – sieht nach Garten aus.«
Mehr nicht. Dann war da nur noch Stille. Die Fenster geöffnet, das Licht weich, fast freundlich. Und der Laptop, wie ein scheinbar noch lebender Rest von etwas, was mal mit seinen Werken viele Leute angesprochen hatte.
Die Hinterbliebenen – seine beiden erwachsenen Kinder – kamen in ein Haus, das von Erinnerungen roch. Nach Tee und Druckerschwärze, nach alten Büchern und gelegentlichem Zweifel.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich von der ersten Sprachlosigkeit lösten. Und dann, beim Durchsehen seiner Manuskripte, Notizen, der unvollendeten Romanfragmente, fragten sie sich, was sie bei der Trauerfeier vorlesen sollten.
»Er hätte gewollt, dass es um Sprache geht«, sagte der Sohn, pragmatisch, leise bestimmt. »Vielleicht ein Auszug aus seinem letzten Essay.«
Doch die Tochter schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat doch immer gesagt, dass jeder Mensch ein Dichter ist. Dass das Problem nur ist, dass die meisten nicht merken, wie poetisch sie sehen – oder sprechen können.«
»Und was willst du dann nehmen? Diese zwei Zeilen, die da auf dem Bildschirm standen?«
Sie lächelte. »Genau die. Erinnerst du dich nicht? Er hat sich oft mit unserer Nachbarin über ihren Garten unterhalten. Und weißt du noch, als wir ihn zur Untersuchung ins Krankenhaus gefahren haben, wie er bei der Rückkehr im Auto sitzen blieb?«
Der Sohn nickte langsam.
»Er schaute auf den leeren Parkplatz – genau auf diesen – und sagte: „Sie ist bestimmt in ihrem Garten.“ Und dann hat er geschwiegen. Lange.«
Da begriffen sie: Diese zwei Zeilen waren nicht das Ende, sondern eine Einladung. Und so machten sie daraus eine Idee: Jeder, der zur Trauerfeier kam, durfte diese Zeilen für sich lesen – und im Anschluss sagen oder aufschreiben, was sie oder er darin gesehen hat. Was er im Idealfall sogar mit ihrem Vater verband.
Es wurde eine stille, bewegende Feier. Ohne pathetische Reden, ohne leere Worthülsen. Nur Stimmen, Bilder, Erinnerungen. Ein Mann sagte am Ende, mit belegter Stimme, aber klarem Blick:
»Euer Vater hat mit euch zusammen wirklich etwas bewirkt. Ich hole jetzt die ganzen Gedichte aus der Schublade, die ich seit Jahren dort versteckt habe.«
Und so begann, was der Vater nie fertigschreiben konnte: ein Gedicht, das zeigt, was auch aus dem kleinsten Anfang werden kann.
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