Gedichte vergleichen – so geht es
- Wir zeigen hier, wie man zwei Gedichte vergleichen kann.
- Dabei nimmt man sich zunächst das eine vor, klärt Inhalt und Aussage.
- Anschließend liest man gewissermaßen mit dem Filter des ersten Gedichtes das zweite und stellt dann
- Gemeinsamkeiten
- und Unterschiede
- fest.
- Weiter unten findet sich ein zusammenfassendes Schaubild unserer Vorgehensweise und des Weges zu den Ergebnissen
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Mat7412 HP Vergleich Goethe, Wandrers Nachtlied Hölderlin Hälfte
Gedicht 1: Goethe
Goethe
Wandrers Nachtlied
- Hier wird Situation und Perspektive eines angenommenen lyrischen Ichs deutlich.
- Es ist auf der Wanderschaft
- und es ist oder wird bald Nacht.
- Über allen Gipfeln
- Ist Ruh,
- Das Gedicht mit einer Fern-Wahrnehmung in Richtung Berge, entscheidend ist das Gefühl der Ruhe.
- Das bezieht sich wohl auf den Eindruck, den der Himmel macht – wenig Wolkenbewegung, vielleicht dunkelblauer bis schwarzer Himmel.
- In allen Wipfeln
- Spürest du
- Kaum einen Hauch;
- Die Blickweite wird enger.
- Jetzt geht es um die Baumwipfel.
- Auch dort, in der Nähe, scheint es keinen Wind und damit auch keine Bewegung der Blätter mehr zu geben.
- Die Vögelein schweigen im Walde.
- Dann noch eine Ergänzung: Auch von den Vögeln, den Bewohnern des Waldes ist nichts mehr zu hören.
- Warte nur, balde
- Ruhest du auch.
- Die einfachste Erklärung ist die, dass dieser Wanderer auf der Wahrnehmung der Natur die Erwartung schöpft, dass auch er selbst zur Ruhe kommen wird.
- Biographische Hypothese:
- Möglicherweise hat Goethe die Ruhe nötig gehabt.
- Entstanden ist das Gedicht 1780. Goethe ist seit 5 Jahren immer stärker in Verwaltungspflichten als Beamter des Herzogs von Sachsen-Weimar.
- Vor diesem Hintergrund, den man bei einer Klausuraufgabe mit einbringen sollte, wird deutlich, dass hier kein alter Mann sich seiner Vergänglichkeit bewusst wird. Interessant kann sein – und eine Recherche wert -, dass Goethe tatsächlich kurz vor seinem Tod 1832 noch einmal die Hütte besucht hat, an deren Wand er ein halbes Jahrhundert früher diese Zeilen geschrieben hatte. Dass er dabei melancholisch wurde, ist sicher leicht erklärlich, hat aber mit der Entstehungs-Intention des Gedichtes nichts zu tun.
Quelle: http://www.zeno.org/nid/20004839684
Gedicht 2: Hölderlin
Hölderlin
Hälfte des Lebens
- Hier eine andere Perspektive.
- Jetzt geht es nicht um eine Wandersituation abends,
- sondern es geht um eine Situation in der Mitte einer anzunehmenden Lebenszeit.
- Heute würde man hier von Midlife Crisis sprechen.
- Aber das ist nur eine Vermutung – das Gedicht kann auch die Erfolge der ersten Lebenshälfte darstellen und sich dann auf weitere freuen.
- Mit gelben Birnen hänget
- Und voll mit wilden Rosen
- Das Land in den See,
- Ausgangspunkt ist eine sommerliche Situation, wo Birnen mehr oder weniger erntefähig zu finden sind und Rosen intensiv blühen.
- Offensichtlich befindet sich das lyrische Ich am Rand eines Sees.
- Auf jeden Fall sieht hier alles nach Idylle aus.
- Ihr holden Schwäne,
- Und trunken von Küssen
- Tunkt ihr das Haupt
- Ins heilignüchterne Wasser.
- Hier wird es schwieriger.
- Die Schwände passen zwar zur Wasserlandschaft, aber dass sie als „holden“ bezeichnet werden, läuft fast auf Bewunderung hinaus.
- Dann folgen Vorstellungen des lyrischen Ichs, die nur in seinem Inneren sein können – denn Schwäne sind nicht für intensive Küsse bekannt. Vielleicht tauchen sie den Schnabel kurz ein – und das lyrische Ich denkt an Küsse.
- Auf jeden Fall ist klar, dass es dann eine Steigerung der Bewegung gibt, nämlich ein komplettes Hineintauchen ins Wasser.
- Dass das Wasser als „heilignüchtern“ bezeichnet wird, passt zu den „holden“ Schwänen und wäre dann eine Steigerung der Bewunderung.
- Dass das Wasser zugleich nüchtern ist, könnte ein Kennzeichen der Klassik sein, über das Winckelmann sich gefreut hätte, denn der wollte ja das rechte Maß und nannte es „edle Einfalt, stille Größe“. Das würde hier durchaus passen.
—
- Weh mir, wo nehm ich, wenn
- Es Winter ist, die Blumen, und wo
- Den Sonnenschein,
- Und Schatten der Erde?
- Hier wird deutlich, dass hier eher eine Krise angesagt ist.
- Die schöne erste Hälfte des Jahres und auch des Lebens geht zu Ende.
- Jetzt kommen unangenehmere Zeiten – deutlich ist ein Klageton, wenn es um Blumen und Sonnenschein im Winter geht.
- Selbst der Schatten wäre dann noch etwas Positives, denn er ist mit Sonnenschein verbunden.
- Die Mauern stehn
- Sprachlos und kalt, im Winde
- Klirren die Fahnen.
- Die Schlusszeilen werden dann noch düsterer.
- Jetzt geht es gar nicht mehr um die sich verändernde Natur.
- Vielmehr kommen jetzt Mauern in den Blick.
- Sie sind nicht nur kalt, sondern auch „sprachlos“. Das könnte man so verstehen, dass diese Außenwelt das lyrische Ich nicht mehr anspricht. Wenn man hier an Hölderlin als Dichter denkt, wird das besonders tragisch: Keine Wahrnehmung als Inspiration – dann auch kein Text.
- Am Ende dann die Verbindung eines unangenehmen Windes mit der Vorstellung des Klirrens – man denkt schnell an brechendes Glas.
Quelle:
http://www.zeno.org/nid/20005105218
Vergleich:
- Goethes Gedicht konzentriert sich auf eine Natursituation, die sich auf den Menschen auswirkt. Er wird damit Bestandteil größerer Zusammenhänge, geht in ihnen auf und findet die wohl ersehnte Ruhe.
- Bei Hölderlin haben wir einen viel größeren Zeithorizont. Im Unterschied zur Nacht wird es keine dritte Hälfte des Lebens geben. Dementsprechend drückt dieses Gedicht den Schmerz aus über Vergänglichkeit und besonders ihre Vorstufen, das Alter mit seinen Einschränkungen und Belastungen.
- Deutlich ist der Unterschied in Ton und Sprache. Während Goethes Gedicht prägnante Kürze zeigt und eine relativ einfache, zumindest nicht künstlerisch hochgezogene Sprache, ist das bei Hölderlin ganz anders. Das wird besonders deutlich im Schwanenteil des Gedichtes, wo das lyrische Ich angesichts der Schönheit der Schöpfung fast in Anbetung fällt.
Schaubild des Weges zum Erfolg
- Der Überschrift entnimmt man eine unterschiedliche Situation.
- Dann wendet man sich dem ersten Gedicht zu: Goethes „Nachtlied“.
- Man stellt fest, dass das Phänomen „Ruhe“ am Abend auf mehreren Ebenen festgestellt und beschrieben wird.
- Mit den „Vögelein“ als Übergang zum Menschen
- Am Ende dann die Übertragung auf den Menschen als recht intensive, fast mahnende Erwartung.
— - Dann das Hölderlin-Gedicht:
eine schöne Gegenwart in einfach-sachlicher Beschreibung. - Gefolgt von einer weiteren Beschreibung, die im Vergleich zur ersten überhöht wirkt (hold, heilignüchtern).
- Dann keine durchlaufende Linie wie bei Goethe, sondern ein Gegensatz zwischen Noch-Gegenwart und erwarteter massiver Verschlechterung der Situation.
- Zunächst Klage mit Frage-Blick auf Sommer-Elemente, die im Winter fehlen.
- Am Ende dann die brutale Antwort der zu erwartenden Realität: „Mauern“, die auch noch „sprachlos“ sind. Man könnte auch sagen „nichtssagend“. Außerdem sind sie kalt als Gegengefühl zum warmen Leben.
- Ganz am Schluss dann Hinweis auf „Fahnen“, die hier eine Art Herrschaftszeichen des Winters sind – und „klirren“ wie springendes Glas.
— - Fazit:
- Bei Goethe: (wohl positive) Erwartung der Ruhe am Abend
- Bei Hölderlin: besorgte, ängstliche Erwartung einer schlechteren zweiten Lebenshälfte.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Themenseite Gedichtvergleich
https://textaussage.de/vergleich-von-gedichten-tipps-und-beispiele-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos