LBV: Zitatsammlung Erzähltechnik im Roman „Heimsuchung“ – Kapitel „Das Mädchen“ (Mat8704-Erz-Mae-zit)

Worum es hier geht:

Der Roman „Heimsuchung“ ist sehr eigenwillig aufgebaut und auch die Erzähltechnik ist zumindest gewöhnungsbedürftig, wenn nicht sogar ein bisschen fragwürdig. Aber das ist wortwörtlich gemeint, nicht als Kritik, sondern als Anregung mal darüber nachzudenken.

Auf der folgenden Seite
https://schnell-durchblicken.de/die-erzaehltechnik-in-dem-roman-heimsuchung-von-jenny-erpenbeck

haben wir schon Beobachtungen zusammengestellt und an entsprechenden Textstellen festgemacht.

Das haben wir auf der folgenden Seite genauer ausgeführt.

https://schnell-durchblicken.de/detail-untersuchung-und-systematik-erzaehltechnik-im-roman-heimsuchung

Erzähltechnik im Kapitel 11 („Das Mädchen“) – umfangreiche  Zitatsammlung

Und zwar präsentieren wir hier eine umfangreiche Sammlung von Zitaten, die die verschiedenen Aspekte der Erzähltechnik in diesem Kapitel konkret veranschaulichen.

Eine Zusammenfassung in 10 Punkten gibt es hier:
https://schnell-durchblicken.de/zf-erzaehltechnik-im-roman-heimsuchung-kapitel-das-maedchen

1. Erzählverhalten: Personal oder/und Auktorial

1.1 Personal (Figural)

Das Erzählverhalten ist über weite Strecken personal geprägt, da der Leser die Geschehnisse und Erinnerungen direkt durch die Wahrnehmung, die Gefühle und die internen Fragen des Mädchens Doris erfährt. Der Fokus liegt auf ihrer Isolation und Identitätskrise in der Dunkelheit.

• Innenwahrnehmung und Isolation:
Ein zentrales Beispiel für die Innenwahrnehmung, die von Isolation und dem Verlust der eigenen Existenz zeugt, ist der Wunsch nach einem Beweis des eigenen Seins in der erdrückenden Dunkelheit:

  • „Sie würde gern irgendeinen Beweis dafür haben, daß sie da ist, aber es gibt keinen Beweis.“
    (Dies zeigt die innere Notwendigkeit, ihre Existenz in der sensorisch beraubten Umgebung zu bestätigen.)
  • Ein weiteres Beispiel der Isolation ist die Verschmelzung der Protagonistin mit ihrer Umgebung:
    „Rings um sie ist alles schwarz, und der Kern dieser schwarzen Kammer ist sie.“

• Wahrnehmung von Zeit und Veränderung:
Die personale Erzählung reflektiert die Zeit als eine Kraft, die Doris von ihrer früheren Identität und ihren Mitmenschen entfremdet:

  • „Zeit, die sie wahrscheinlich immer weiter und weiter entfernt von dem Mädchen, das sie vielleicht einmal war:“
    (Dies drückt die subjektive Empfindung aus, wie die ungewisse Dauer des Verstecktseins die Verbindung zur Vergangenheit kappt.)
  • Diese Veränderung wird auch in Bezug auf ihre Besitztümer deutlich, die nicht mehr zu ihr passen würden:
    „das alles war schon so lange her, daß ihr Bett, käme sie jetzt in Brasilien an, viel zu kurz für sie wäre, und die Hemden und Strümpfe und Röcke und Blusen um mehrere Nummern zu klein.“

• Direkte innere Fragen:

  • „Wer war sie? Wessen Kopf war ihr Kopf? Wem gehörten jetzt ihre Erinnerungen?“
  • Andere Fragen betreffen die Realität des Außen:
    „Aber gab es überhaupt Krebse, einen See, ein Boot, Himbeer-sträucher? War dieser Junge noch da, wenn sie ihn nicht sah? War außer ihr noch irgendwer auf der Welt?“

• Gefühlszustand in der Kammer:

  • „Niemals in ihrem Leben ist sie wilder gewesen, als in dieser winzigen Kammer, in der sie nicht spricht, nicht singt, nicht aufstehen kann und, wenn sie sitzt, mit den Knien gegen die Wand stößt.“
    „Jetzt muß sie pinkeln, aber sie darf nicht aus der Kammer hinausgehen, das hat die Mutter, bevor sie zur Arbeit ging, zu ihr gesagt.“
1.2 Auktorial

Der Erzähler greift regelmäßig auktorial ein. Er besitzt überlegenes Wissen über die äußeren Umstände, historische Entwicklungen und Ereignisse, die Doris weder sehen noch wissen kann (wie die Vorgänge im Haus, auf der Straße oder die Versteigerung in Guben).

• Überblick über das Umfeld und die Stille:
„Sämtliche Fenster des Hauses in der Nowolipiestraße, wo das Mädchen sich versteckt hält, stehen noch immer weit offen, […] jetzt ist alles vollkommen still“

• Wissen um das Schicksal und die Zukunft (Interpretation):
„Jetzt ist es nur noch ein kleiner Übergang, der ihr bevorsteht. Entweder verhungert sie hier in ihrem Versteck, oder sie wird gefunden und abtransportiert.“

• Simultanes Geschehen (Versteigerung in Guben):
„Tatsächlich wurde schon Wochen zuvor, genau an dem Tag im Juni, an dem ihre Mutter zur Gesia gegangen war, um auf dem Schwarzmarkt die Armbanduhr zu verkaufen, […] wurde an ebendiesem Tag ihr gesamter Gubener Hausrat in der umgekehrten Reihenfolge, in der ihr Vater und ihre Mutter ihn zwei Jahre zuvor für die Ausreise nach Brasilien in die Container gepackt hatten, herausgenommen und für die Versteigerung hergerichtet.“

• Zusammenfassung des Endes (Vorausdeutung):
„Von den hundertzwanzig Menschen im Waggon ersticken während der zweistündigen Fahrt ungefähr dreißig.“

2. Erzählperspektive: Innen oder/und Außen

2.1 Innenperspektive

Die Innenperspektive (interne Fokalisierung) ermöglicht einen tiefen Einblick in Doris’ Gedanken, Erinnerungen und ihre unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse.

• Konzentration auf sensorische und emotionale Erfahrung:
„Rings um sie ist alles schwarz, und der Kern dieser schwarzen Kammer ist sie.“

• Vergegenwärtigung der Erinnerungen in der Dunkelheit:
„Farbig ist nur noch das, woran sie sich erinnert, mitten in dieser Dunkelheit, die sie umgibt, deren Kern sie ist, farbige Erinnerungen hat sie in ihrem vom Licht vergessenen Kopf, Erinnerungen von jemand, der sie einmal war. Wahrscheinlich war.“

• Reflexion über die existenzielle Notwendigkeit (Erinnerung):
„Jetzt wird ihr klar, was sie die ganze Zeit nicht bedacht hat: Wenn niemand mehr weiß, daß sie da ist, wenn sie nicht mehr da ist, wer weiß dann von der Welt?“

2.2 Außenperspektive

Die Außenperspektive (externe Fokalisierung) tritt in den Vordergrund, wenn der auktoriale Erzähler neutrale Fakten über die Umgebung oder Ereignisse, die Doris nicht wahrnimmt, präsentiert.

• Beschreibung der allgemeinen Stille und Leere:
„Während jenseits der Kammer in der Wohnung alles still ist, und jenseits der Wohnung unten auf der Straße alles still ist, und jenseits dieser Straße auch in allen anderen Straßen des Viertels alles vollkommen still ist, hört das Mädchen alles, was es einmal gab:“

• Objektive Beschreibung der Umgebung und des Endes:
„Als das Werterfassungskommando unter Leitung eines deutschen Soldaten die Wohnung übernimmt, hat das Rinnsal auf dem Küchenfußboden einen kleinen See gebildet.“

3. Darbietungsform: Erzählerrede, Erzählbericht oder/und Erlebte Rede

3.1 Erzählbericht

Der Erzählbericht dient dazu, die äußeren Handlungen, die Hintergrundgeschichte und die unmittelbaren Umstände von Doris’ Versteck zusammenzufassen.

• Beschreibung der Situation und Dauer:
„Während sie auf der kleinen Kiste sitzt, und ihre Knie an die gegenüberliegende Wand stoßen, und sie ihre Beine manchmal nach rechts, manchmal nach links schräg stellt, damit sie nicht einschlafen, vergeht Zeit.“

• Zusammenfassung historischer Ereignisse:
„Im Herbst gaben die Eltern sie nach Berlin zu einer Tante, damit sie den Hänseleien ihrer Schulkameradinnen über ihr jüdisches Blut nicht länger ausgesetzt wäre.“

• Beschreibung des letzten Transports:
„Zum letzten Mal muß sie jetzt die Zamenhofa entlang nordwärts gehen, die Sonne im Rücken. Neben ihr gehen andere, die sie nicht kennt, jetzt ist allen glücklichen Zufällen der Atem ausgegangen, jetzt gehen alle endlich für immer heim.“

3.2 Erzählerrede

Die Erzählerrede umfasst direkte Kommentare, Metaphern und auktoriale Einschübe, die über das reine Berichten hinausgehen und interpretieren oder ironisch kontrastieren.

• Auktoriale Metapher (Musik/Nähe zum Ende):
„Von C-Dur entfernt man sich über G-Dur, D-Dur, A-Dur, E-Dur, H-Dur bis hin zu Fis-Dur Kreuz für Kreuz immer weiter. Aber von Fis wieder hin zu C ist es nur ein ganz kleiner Schritt.“

• Tragische Ironie und Kontrastierung der Ereignisse:
„Tatsächlich wurde schon Wochen zuvor, genau an dem Tag im Juni, an dem ihre Mutter zur Gesia gegangen war, um auf dem Schwarzmarkt die Armbanduhr zu verkaufen, […] wurde an ebendiesem Tag ihr gesamter Gubener Hausrat […] für die Versteigerung hergerichtet.“

• Zusammenfassende Interpretation des Endgültigen Verlusts:
„Drei Jahre lang hat das Mädchen Klavierspielen gelernt, aber jetzt, während sein toter Körper in die Grube hinunterrutscht, wird das Wort Klavier von den Menschen zurückgenommen…“

3.3 Erlebte Rede

Die Erlebte Rede transportiert Doris’ innere Gedanken und frühere Dialoge, ohne sie direkt als wörtliche Rede zu kennzeichnen, was eine hohe emotionale Nähe zur Figur schafft.

• Innere Reflexion über die Vergangenheit:
„War damals das Leben noch heil?“

• Direkte Wiedergabe innerer Fragen, basierend auf Gesprächen mit dem Vater:
„Gibt es in Brasilien auch Seen? Aber ja. Gibt es in Brasilien auch Bäume? Doppelt so große wie hier. Und unser Klavier?“

• Realitätsprüfung durch Zweifel:
„Aber gab es überhaupt Krebse, einen See, ein Boot, Himbeer-sträucher? War dieser Junge noch da, wenn sie ihn nicht sah? War außer ihr noch irgendwer auf der Welt?“

• Innere Rechtfertigung des Überlebenswillens:
„…wild hieß hier: nicht zu gehen statt einer andern, den Kopf nicht zum Zählen hinzuhalten, sich totzustellen, statt sich zum Sterben zu melden, überleben zu wollen, ohne zu trinken, zu essen.“

Weitere Infos, Tipps und Materialien