Lessing – Emilia Galotti – Beurteilung ihres Todes
- Im Deutschunterricht ist es eine beliebte Übung, das Verhalten von Figuren in einer Geschichte oder einem Drama zu beurteilen.
- Dabei muss man allerdings eine Sache berücksichtigen, sonst macht das nicht viel Sinn:
- Man muss nämlich erste mal klären, von welchen Werten und Normen man ausgeht.
- Die Bewertung von Verhaltensweisen, die in einem völlig anderen kulturellen Umfeld stattfinden, macht nicht viel Sinn, wenn man es mit heutigen Maßstäben misst.
- Wir sehen doch gerade, wie die Maßstäbe, die noch vor zehn oder 20 Jahren in diesem Land gegolten haben, sich aktuell verändern – zum Beispiel im Hinblick auf das Klima oder die Frage des Rassismus.
- Diese Veränderung mag man gut oder schlecht finden, auf jeden Fall ist es ein Phänomen.
- Langer Rede kurzer Sinn:
- Es macht wenig Sinn, ein Verhalten in einem fremden Kontext zu beurteilen,
- sinnvoller ist es, in der aktuellen Gegenwart etwas Vergleichbares zu finden, das man dann zumindest teilweise nach heutigen Maßstäben beurteilen kann.
- Verbindlich für alle sind eigentlich nur die Verfassung und die Gesetze und in bestimmten Zusammenhängen auch die kulturellen Normen, die dort herrschen.
- So wundert man sich sicherlich zurecht, wenn ein Praktikant seinen Dienst in einer Bank in Badeschlappen und Shorts antritt.
- Bei einer Beerdigung ist es eher ungewöhnlich, wenn jemand mit einem T-Shirt an tritt, auf dem steht: genieße den Tag 🙁
- Bei Emilia muss man also genau hinschauen, welche Maßstäbe sie für gültig hält oder halten muss. Das Problem dabei ist nun wieder, dass das nur im Rahmen des Dramas geschieht. Es wird schwierig, die zur Zeit der fiktiven Dramenhandlung geltenden Normen herauszubekommen. Da muss man also genau in den Text schauen und kann nur vorsichtig historische Erkenntnisse heranziehen.
- Aus dem Drama kann man Folgendes zur Beurteilung herausholen:
- Sie ist offensichtlich sehr fromm – wobei man dann prüfen muss, was das genau heißt. Von heutigen Vorstellungen dürfen wir nicht einfach ausgehen.
- Sie hält sich streng an die gesellschaftlichen Vorgaben der Zeit, in der das Drama spielt – auch hier wieder mit bestimmten Vorbehalten.
- Aber sie will auch nicht so leben, „als ob wir, wir keinen Willen hätten.“
- Emilia ist stark auf die Familie fixiert, so sagt sie etwa zur Mutter: „Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen“.
- Das geht sogar so weit, dass sie das eigene Überleben in einem engen Zusammenhang mit dem Überleben der Mutter nach dem Überfall sieht.
- Sie sieht sich offensichtlich als moralisch ziemlich schwach an, wie sie im Hinblick auf einen früheren Besuch im Haus des Kanzlers erklärt. So erklärt sie, „dass fremdes Laster uns, wider unseren Willen zu Mitschuldigen machen kann.“
- Sie hälft sich selbst auch für sehr gefühlsintensiv und traut sich nicht zu, demgegenüber standzuhalten: „Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.“
- Der Zwiespalt zwischen den Normen, an die sie sich halten will, und ihrer zu geringen moralischen Verteidigungskraft, zwingt sie letztlich, den Ausweg im Tod zu suchen.
- Erstaunlicherweise greift sie am Ende zu einer Lüge, um den Vater vor einer Strafe zu schützen. Hier sieht man, dass die Familiengebundenheit für sie stärker ist als das Gebot, nicht zu lügen.
- Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Emilia ziemlich zwangsläufig auf Selbstmord oder Mord auf Verlangen zudriftet. Das hat weniger mit Angst vor dem Prinzen zu tun, wie man zunächst glaubt, als mit Angst vor der eigenen Haltlosigkeit im Falle einer zu großen Versuchung.
- Wenn man jetzt das Verhalten Emilias beurteilen will, muss man entweder genau diesen Weg gehen, den wir hier gegangen sind. Dann kann man sie nicht verurteilen, sondern allenfalls Mitgefühl haben und sich fragen, ob eine Alternative in Charakter und Erziehung denkbar ist.
- Oder aber man sucht sich eine heutige Situation aus, in der ein Mensch auch etwas tut, was man für verwerflich halten kann (und die Kirche hätte das in den Zeiten, auf die das Drama aufsetzt, sicher getan), dabei sich selbst aber entweder treu bleibt oder keinen anderen Ausweg sieht.
- Ein sehr tragisches Thema ist Tötung auf Verlangen im Falle einer Krankheit, die jemand nicht mehr aushalten kann und will – und er ist nicht selbst in der Lage, sich umzubringen, sondern bittet zum Beispiel einen Arzt oder Verwandten um Hilfe. Da kann es sein, dass man das zum einen juristisch beurteilt und zum anderen auch menschlich.
Einen Fall, den man heranziehen kann, ist zum Beispiel der folgende:
https://www.dw.com/de/brittany-maynards-angek%C3%BCndigter-tod/a-18035882 - Oder man nimmt den Fall eines Schweizer Grenzbeamten, der während der Nazizeit Juden ermöglicht hat, in die rettende Schweiz zu gelan gen, und dafür später bestraft worden ist.
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Gr%C3%BCninger - Auf jeden Fall sollte man bei jeder Beurteilung des Verhaltens eines realen Menschen oder auch einer fiktiven Figur auf den jeweiligen Normenkontext achten, der verschiedene Ebenen haben kann: die offiziellen Gesetze und die Frage der Menschlichkeit im konkreten Fall.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Emilia Galotti
https://schnell-durchblicken.de/lessing-emilia-galotti-themenseite
— - Lessings „Emilia Galotti“ als bürgerliches Trauerspiel und Werk der Aufkärung
https://www.schnell-durchblicken2.de/emilia-galotti
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- Lernvideo Theatergeschichte von Aristoteles bis heute Baustein Aristoteles, Regeldrama, Gottsched, Lessing, Schiller
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— - Dramenanalyse – Szenenanalyse
https://textaussage.de/szenenanalyse-themenseite
— - Infos, Tipps und Materialien zu weiteren Themen des Deutschunterrichts
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