Richard Dehmel, „Predigt ans Großstadtvolk“ (Mat4725-dpg)

Worum es hier geht:

Dieses Gedicht beschreibt das Negative am städtischen Massenleben, nimmt sich ein Beispiel an der Natur und sieht sogar größere Chancen für ein besseres Leben als bei den Bäumen im Wald.

Gefunden haben wir das Gedicht hier:
https://www.zgedichte.de/gedichte/richard-dehmel/predigt-ans-grossstadtvolk.html

Richard Dehmel

Predigt ans Großstadtvolk

  1. Ja, die Großstadt macht klein.
  2. Ich sehe mit erstickter Sehnsucht
  3. durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
  4. und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
  5. seines Kiefern- und Eichen-Forstes
  6. wie ein Zaubermeister ausnimmt,
  7. ist zwischen diesen prahlenden Mauern
  8. nur ein verbauertes altes Männchen.
    • Das Gedicht beginnt mit einer resignativen Feststellung: Die Großstadt hat eine erniedrigende Wirkung auf den Menschen.
    • Das lyrische Ich beschreibt seine „erstickte Sehnsucht“ nach der Sonne (Z. 2–3), also nach Licht, Natur, vielleicht Freiheit.
    • Selbst der Vater, einst mächtig im Wald („Zaubermeister“), wird in der Stadt zum „verbauerten alten Männchen“ (Z. 8).
    • Zwischenfazit: Der Leser erkennt sofort: Die Großstadt entzaubert, entwürdigt, drückt nieder. Die Natur wird als Ort der Macht, die Stadt als Ort der Ohnmacht gezeichnet.
  9. laßt euch rühren, ihr Tausende!
  10. Einst sah ich euch in sternklarer Wintemacht
  11. zwischen den trüben Reihen der Gaslatemen
  12. wie einen ungeheuren Heerwurm
  13. den Ausweg aus eurer Drangsal suchen;
  14. dann aber krocht ihr in einen bezahlten Saal
  15. und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst schallen
  16. von Freiheit, Gleichheit und dergleichen.
    • Eindringlicher Appell an das „Großstadtvolk“.
    • Eine Szene wird geschildert: Menschen, die bei Nacht durch die Straßen ziehen – fast wie ein „Heerwurm“ (Z. 12), also etwas Trostloses, Masse ohne Individualität, aber mit grundsätzlich vorhandenem Massen-Potenzial.
    • Statt echter Befreiung endet dieser Marsch in einem „bezahlten Saal“ (Z. 14), wo politische Phrasen gehört werden – in Bierdunst und Rauch.
    • Zwischenfazit: Der Ruf nach Veränderung erstickt in ritualisierten politischen Veranstaltungen. Der Leser fühlt hier Vergeblichkeit und Ironie.
  17. Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen:
  18. sie wurzeln fest und lassen sich züchten,
  19. und jeder bäumt sich anders zum Licht.
    • Rückkehr zur Natur: Der Baum wird zum Vorbild. Er wächst individuell, steht fest, richtet sich zum Licht aus (Z. 18).
  20. Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,
  21. euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,
  22. ihr steht und schafft euch Zuchthausmauern –
  23. so geht doch, schafft euch Land! Land! rührt euch!
  24. Vorwärts! rückt aus! –
    • Der Mensch hingegen schafft sich selbst „Zuchthausmauern“ – durch seine Lebensweise (Z. 20).
    • Finale Forderung: „Land! Land! rührt euch! vorwärts! rückt aus!“ (Z. 21) – fast wie ein militärischer Befehl.
    • Gesamtfazit: Die Predigt steigert sich zu einem kraftvollen Aufruf zur Tat. Die Alternative zur städtischen Selbstverkrüppelung ist das aktive Sich-Herauslösen.
  1. Aussagen des Textes
  • Das Gedicht zeigt die Verkrüppelung des menschlichen Geistes in der anonymen, entfremdenden Großstadt (Z. 1–7).
  • Es kritisiert die bloße politische Rhetorik ohne echtes Handeln (Z. 13–15).
  • Es ruft auf zur individuellen Selbstbefreiung durch Rückkehr zur Natur und Aktivität (Z. 16–21).
  • Es stellt die Macht der Natur (z.B. die Bäume) der Ohnmacht des Menschen in der Zivilisation gegenüber.

5. Sprachliche und rhetorische Mittel

  • Metapher: „durch tausend Menschendünste zur Sonne auf“ – Ausdruck von Beklemmung, Sehnsucht (Z. 2–3).
  • Vergleich: Der Vater ist wie ein „Zaubermeister“ im Wald – Symbol für Stärke und Würde (Z. 5).
  • Ironie: „Freiheit, Gleichheit und dergleichen“ – das „dergleichen“ entwertet die politischen Ideale (Z. 15).
  • Apostrophe: „laßt euch rühren, ihr Tausende!“ – direkte Anrede des städtischen Publikums (Z. 8).
  • Steigerung: „Land! Land! rührt euch! vorwärts! rückt aus!“ – dramatischer Appell, wie ein Weckruf (Z. 21).
  • Symbolik: Der Baum als Symbol natürlicher Entwicklung und Individualität.

Diese Mittel unterstützen die Aussagen, indem sie Emotionalität, Kontrast und Dringlichkeit erzeugen.

Reim und Rhythmus

  1. Ja, die Großstadt macht klein.
    X x    X     x       x        X
    Kein regelmäßiger Wechselrhythmus
  2. Ich sehe mit erstickter Sehnsucht
    x X  x  X   x  X    x   X     x
    vierhebiger Jambus
  3. durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
    x X   x      X    x        X    x   x    X   x   X
  4. und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
    x X        x       X  x    x     x    X     x      x     X   x
    und so geht es weiter:
    Entscheidung, dem Rhythmus hier keinen Versmaß-Charakter zuzusprechen,
    sondern es eben als Predigt zu nehmen.
  5. seines Kiefern- und Eichen-Forstes
  6. wie ein Zaubermeister ausnimmt,
  7. ist zwischen diesen prahlenden Mauern
  8. nur ein verbauertes altes Männchen.

·      Auf Reim wird ganz verzichtet, was zur Gattung Predigt passt.

6. Was kann man mit diesem Gedicht anfangen?

  • Das Gedicht lädt zur gesellschaftlichen Selbstreflexion
  • Es kann als Kritik an Passivität und Anpassung in der modernen Massengesellschaft gelesen werden.
  • Es regt zur Diskussion über Naturverbundenheit gegen Urbanität, über Freiheit und Individualismus
  • In einer Zeit ökologischer Krisen wirkt der Appell zur Rückkehr zur Natur hochaktuell.

7. Kritik und Kreativität

  • Die Predigerhaltung kann einem etwas von oben herab vorkommen.
  • Dementsprechend interessant wäre es, ein Antwort-Gedicht zu schreiben. die etwa eine mögliche privilegierte Haltung des Schriftstellers betont, die wenig Einsicht hat in die realen Verhältnisse in der Massengesellschaft der Kaiserzeit.

8. Persönliche Reaktion von Mia (fiktive Schülerin)

Mit ihr wollen wir zeigen, wie man auf ein Gedicht reagieren kann.

  • Ich finde es spannend, wie kritisch der Autor mit der Großstadt umgeht – das passt irgendwie auch heute noch.
  • Die Bilder mit den Bäumen haben mir besonders gefallen – die wachsen einfach so, wie sie wollen.
  • Die Figur des Vaters tut mir leid – sie zeigt, wie Menschen sich in der Stadt verlieren können.
  • Die Sprache ist total dramatisch – fast wie bei einem politischen Redner.
  • Die Kritik an den Versammlungen mit „Rauch und Bierdunst“ fand ich ironisch und echt treffend.
  • Der Appell am Ende klingt wie ein Befehl – das war mir fast zu viel.
  • Ich musste über den Kontrast zwischen Natur und Stadtleben viel nachdenken.
  • Ich hätte Lust, das Gedicht in einem Projekt mit Umwelt-Thema zu verwenden.
  • Manches war schwer zu verstehen beim ersten Lesen, z.B. „Heerwurm“.
  • Insgesamt fand ich das Gedicht eindrucksvoll, aber auch ein bisschen aufrüttelnd und bedrückend.

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