Storm, „Schimmelreiter“ Teil 1: Kindheit bis zur Anstellung beim Deichgrafen – Inhalt, wichtige Textstellen, Interpretation (Mat2114-teil1)

Worum es hier geht:

Theodor Storm, „Der Schimmelreiter“ – Inhalt, wichtige Textstellen und ihre Interpretation

Hier werden wir die wichtigsten Textstellen von Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ vorstellen und ihre Bedeutung für die Interpretation der Geschichte herausarbeiten.

Sie Seitenangaben beziehen sich auf die Reclam-XL-Ausgabe, die es auch als E-Book gibt.

Zu bekommen ist die zum Beispiel hier.

Ein Anfang mit drei Erzählern

Die Geschichte von Hauke Haien, der zum Schimmelreiter wird, hat einen interessanten Anfang.

Da berichtet nämlich zunächst ein Ich-Erzähler, wie er das bei seiner Urgroßmutter aus einer Zeitschrift kennengelernt hat, was er jetzt berichten will.

Dann geht es los mit der Geschichte – und schon haben wir einen zweiten Erzähler, der wiederum berichtet, diesmal aber, was er selbst erlebt hat, nämlich einen stürmischen Ritt am Deich entlang, der ihn schließlich in ein großes Haus führt.

Auf dem Weg dahin hat er mitten im Sturm eine seltsame Begegnung mit eben diesem geisterhaften Schimmelreiter, der schließlich im Meer verschwindet.

Und dann ist man bei einem dritten Erzähler, einem Schulmeister, also Lehrer, der sich auch in diesem Haus befindet und der nun endlich die eigentliche Geschichte erzählt, die der Geschichte ihren Titel gegeben hat.

Nur ganz kurz: Wieso nennt man diese Geschichte eine „Novelle“?

Ach ja, das ist auch eine gute Gelegenheit, mal kurz das Wort „Novelle“ zu erklären. So bezeichnet man nämlich Geschichten, die ziemlich dramatisch sind und häufig ein sogenanntes Dingsymbol haben, also etwas, was für die ganze Geschichte steht. Wir werden noch sehen, wieso dieser „Schimmelreiter“ mehr ist als ein Gespenst, sondern für einen Mann steht, der aus kleinsten Verhältnissen kommt, ungeheuer wissbegierig und ideenreich ist, zum Deichgrafen wird, dem Meer Land abgewinnt und schließlich mit seiner Familie in einer Sturmflut umkommt und schließlich zu einer Art Gespenst wird.

Ein Junge, der es wissen will …

Eine erste interessante Stelle ist die, in der deutlich wird, wie interessiert und zielstrebig sich der Held der Novelle, Hauke Haien, bereits in jungen Jahren präsentiert:

„Der Junge saß meist dabei und sah über seine Fibel oder Bibel weg dem Vater zu, wie er maß und berechnete, und grub sich mit der Hand in seinen blonden Haaren. Und eines Abends frug er den Alten, warum denn das, was er eben hingeschrieben hatte, gerade so sein müsse[256] und nicht anders sein könne, und stellte dann eine eigene Meinung darüber auf. Aber der Vater, der darauf nicht zu antworten wußte, schüttelte den Kopf und sprach: »Das kann ich dir nicht sagen; genug, es ist so, und du selber irrst dich. Willst du mehr wissen, so suche morgen aus der Kiste, die auf unserm Boden steht, ein Buch, einer, der Euklid hieß, hat’s geschrieben; das wird’s dir sagen!«

– – Der Junge war tags darauf zum Boden gelaufen und hatte auch bald das Buch gefunden; denn viele Bücher gab es überhaupt nicht in dem Hause; aber der Vater lachte, als er es vor ihm auf den Tisch legte. Es war ein holländischer Euklid, und Holländisch, wenngleich es doch halb Deutsch war, verstanden alle beide nicht. »Ja, ja«, sagte er, »das Buch ist noch von meinem Vater, der verstand es; ist denn kein deutscher da?«“

Ein Vater gibt seinem Sohn eine Chance …

Es gibt viele literarische Texte, in denen gute Ansätzen bei Kindern durch die Eltern, bsd. den Vater, zerstört werden.

Spontan können einem dazu einfallen:

  1. Hesse, „Unterm Rad“
  2. Storm, „Hans und Heinz Kirch“
  3. Ebner-Eschenbach, „Der Vorzugsschüler“
    siehe auch: https://www.einfach-gezeigt.de/ebner-eschenbach-vorzugsschueler

Umso positiver sieht das in der Novelle „Der Schimmelreiter“ aus. Schauen wir uns die entsprechende Stelle mal an.

Oben sind wir ja schon darauf eingegangen, dass der Vater seinen Sohn angeregt und unterstützt hat, sich mit Mathematik und besonders Geometrie zu beschäftigen.

 

Um die folgende Stelle zu verstehen, muss man wissen, dass Hauke gerade den Kater einer anderen Frau totgeschlagen hat und sein Vater das finanziell geregelt hat.

Also eigentlich ein Grund zum Ausrasten, stattdessen eine vernünftige Aussprache und dann auch noch Großzügigkeit im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Sohnes:

  1. 22-24 der Reclam-xl-E-Book-Ausgabe.

 

  • „Der Alte sagte nichts hierauf; er begann eine Zeitlang wieder auf und ab zu gehen; dann blieb er vor dem Jungen stehn und sah eine Weile wie abwesend auf ihn hin. »Das mit dem Kater hab ich rein gemacht«, sagte er dann; »aber, siehst du, Hauke, die Kate ist hier zu klein; zwei Herren können darauf nicht sitzen – es ist nun Zeit, du mußt dir einen Dienst besorgen!«
  • »Ja, Vater«, entgegnete Hauke; »hab dergleichen auch gedacht.«
  • »Warum?« frug der Alte.
  • – »Ja, man wird grimmig in sich, wenn man’s nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann.«
  • »So?« sagte der Alte, »und darum hast du den Angorer totgeschlagen? Das könnte leicht noch schlimmer werden!«
  • – »Er mag wohl recht haben, Vater; aber der Deichgraf hat seinen Kleinknecht fortgejagt; das könnt ich schon verrichten!«
  • Der Alte begann wieder auf und ab zu gehen und spritzte dabei die schwarze Tabaksjauche von sich. »Der Deichgraf ist ein Dummkopf, dumm wie ’ne Saatgans! Er ist nur Deichgraf, weil sein Vater und Großvater es gewesen sind, und wegen seiner neunundzwanzig Fennen. Wenn Martini herankommt und hernach die Deich- und Sielrechnungen abgetan werden müssen, dann füttert er den Schulmeister mit Gansbraten und Met und Weizenkringeln und sitzt dabei und nickt, wenn der mit seiner Feder die Zahlenreihen hinunterläuft, und sagt: ›Ja, ja, Schulmeister, Gott vergönn’s Ihm! Was kann Er rechnen?‹ Wenn aber einmal der Schulmeister nicht kann oder auch nicht will, dann muß er selber dran und sitzt und schreibt und streicht wieder aus, und der große dumme Kopf wird ihm rot und heiß, und die Augen quellen wie Glaskugeln, als wollte das bißchen Verstand da hinaus.«
  • Der Junge stand gerade auf vor dem Vater und wunderte sich, was der reden könne; so hatte er’s noch nicht von ihm gehört. »Ja, Gott tröst!« sagte er, »dumm ist er wohl; aber seine Tochter Elke, die kann rechnen!«
  • Der Alte sah ihn scharf an. »Ahoi, Hauke«, rief er; »was weißt du von Elke Volkerts?«
  • – »Nichts, Vater; der Schulmeister hat’s mir nur erzählt.«
  • Der Alte antwortete nicht darauf; er schob nur bedächtig seinen Tabaksknoten aus einer Backe hinter die andere.
  • »Und du denkst«, sagte er dann, »du wirst dort auch mitrechnen können.«
  • »O ja, Vater, das möcht schon gehen«, erwiderte der Sohn, und ein ernstes Zucken lief um seinen Mund.
  • Der Alte schüttelte den Kopf: »Nun, aber meinethalb; versuch einmal dein Glück!«“

Weitere Infos, Tipps und Materialien