Tipp für ein besseres Leben: Sich nur um seinen Garten kümmern? Der Alte und sein Garten in Voltaires Roman „Candide“ (Mat7000-mdn-vcg)

Rückzug in den eigenen Garten als Voraussetzung von Glück

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https://schnell-durchblicken.de/you-mia-tipp-fuer-ein-besseres-leben-gibt-es-mal-aerger-nicht-gleich-voll-einstiegen
haben wir ein Video vorgestellt, in dem es darum ging/geht, dass man bei Ärger und Provokationen möglichst erst mal nicht reagiert.

In dem Zusammenhang ist uns die Schluss-Episode des Romans „Candide“ von Voltaire eingefallen, in der ein alter Mann sich nur um das Naheliegende kümmert und sich nicht von großen  Ereignissen des Tages aufregen lässt.

Zum Roman und den Figuren der Episode

  • Voltaires satirischer Roman „Candide oder der Optimismus“ wurde 1759 veröffentlicht und entstand im Zeitalter der Aufklärung, beeinflusst unter anderem vom Erdbeben von Lissabon 1755.
  • Der als naiver Mensch präsentierte Candide durchlebt eine von Kriegen, Katastrophen und menschlicher Grausamkeit gezeichnete Welt.
  • Hauptthema ist die scharfe Kritik an der optimistischen Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz‘, die diese Welt als die beste aller möglichen Welten darstellt.
  • Candides unzählige Leiden entlarven diese Sichtweise als absurd und wirklichkeitsfern.
  • Die zentrale Botschaft lautet, dass man sich nicht in abstrakten philosophischen Spekulationen verlieren, sondern sich der praktischen Arbeit widmen sollte, um ein gewisses Maß an Zufriedenheit zu finden.
  • Dies gipfelt im berühmten Schlussappell: „Man muss seinen Garten bebauen.“
    • Pangloss, Candides Lehrer, verkörpert dabei den naiven, unerschütterlichen Optimismus, der selbst extremste Katastrophen rationalisiert.
    • Candide selbst durchläuft eine Entwicklung vom unschuldigen Gläubigen zum desillusionierten Pragmatiker.
    • Martin, der zynische Gelehrte, dient als pessimistisches Gegenstück und zeigt Candide die gnadenlose Realität der Welt.
  • Der Roman ist somit eine zeitlose Reflexion über das menschliche Leid und die Suche nach Sinn abseits dogmatischer Ideologien.

Schauen wir uns die Episode mal an:

Während dieser Unterredung erscholl das Gerücht, daß man zu Konstantinopel zwei Wesire des Divans und den Mufti erdrosselt und viele ihrer Freunde gepfählt habe. Diese Katastrophe erregte einige Stunden lang gewaltigen Lärm. Auf dem Heimwege nach ihrem Meierhofe stießen Pangloß, Kandid und Martin auf einen guten Alten, der sich in einer Pomeranzenlaube vor seiner Hausthür der frischen Luft erfreute. Pangloß, der eben so neugierig, als schwatzhaft und disputirsüchtig war, fragte ihn, wie der eben erdrosselte Mufti heiße.

  • Mia: Hier haben wir genau die Situation, die jeder kennt. Den ganzen Tag wird man überschwemmt mit Nachrichten, die einen aufregen, aber eigentlich mit einem selbst kaum etwas zu tun haben.
  • Dazu kommt, dass im Unterschied zur Zeit des Romans heute noch viele Infos unterwegs sind, deren Realitätsgehalt äußerst fragwürdig ist und die ganz andere Funktionen erfüllen.

»Das weiß ich nicht,« erwiderte der ehrliche Alte, »so wenig wie ich überhaupt je den Namen irgend eines Mufti oder Wesir gewußt habe. Von der ganzen Geschichte, von der Du da sagst, ist mir nichts bekannt. Ich bin der Meinung, daß die Meisten, die sich in öffentliche Angelegenheiten mischen, am Ende übel wegkommen und es auch verdienen. Ich erkundigte mich nie danach, was man in Konstantinopel anfängt. Ich schicke meine selbstgepflanzten Gartenfrüchte zum Verkauf dorthin, und damit gut.«

  • Mia: Hier wird der aufgeregten Reaktionswelt, die wir alle kennen, etwas ganz anderes entgegengesetzt.
  • Dieser kluge alte Mann kümmert sich nicht um „öffentliche Angelegenheiten“,
  • weil er weiß, dass es da auch viele Opfer gibt, „die es auch verdienen“. Offensichtlich hatte der Mann und wohl auch der Autor des Romans keine hohe Meinung von denen, die in der Öffentlichkeit das Sagen haben, bis sie ihr angeblich verdientes Schicksal ereilt – und sie auch wieder stürzen.

Wie er dies gesagt hatte, nöthigte er die Fremden in sein Haus. Seine beiden Töchter und beiden Söhne bewirtheten sie mit mehrerlei selbstgefertigten Scherbet’s, mit Kaimak, der mit eingemachter Citronenschale abgezogen war, mit Pomeranzen, Citronen, Limonien, Ananas, Pistazien und Moccakaffee, der nicht mit den elenden Bohnen von Batavia und den Inseln vermischt war. Hierauf beräucherten die beiden Töchter des guten Muselmanns Kandid, Pangloß und Martin die Bärte.

  • Mia: Hier wird der Öffentlichkeit eine private, sehr menschliche Welt entgegengesetzt.

»Ihr müßt ein großes, herrliches Landgut haben,« sprach Kandid zum Türken.

»Nichts weiter, als zwanzig Morgen,« antwortete der Alte; »die bestelle ich mit meinen Kindern. Die Arbeit schützt uns vor drei Hauptübeln, vor Langerweile, Laster und Mangel.«

Kandid stellte auf dem Heimwege über die Reden des Türken tiefe Betrachtungen an.

»Wahrlich,« sprach er zu Pangloß und Martin, »dieser gute Alte scheint sich ein Loos verschafft zu haben, das dem der sechs Könige, mit denen wir die Ehre hatten, zu speisen, weit vorzuziehen ist.«

»Nichts gefährlicher in dieser Welt, als Macht und Größe,« sagte Pangloß, »das lernen wir von allen Philosophen. Denn am Ende ward Eglon, der König der Moabiter, durch Ehud gemeuchelmordet; Absalon an die Haaren aufgehängt und mit drei Spießen durchbohrt; König Nadab, der Sohn Jerobeam’s, ward von Baesa getötdet; König Ella von Simri; Ahasja von Jehu; die Königin Athalja von dem Priester Jojada; die Könige Jojakim, Jojachin und Zedekia wurden Sklaven. Sie kennen das jämmerliche Ende des Krösus, Astyages, Darius, Dionys von Syrakus, Pyrrhus, Perseus, Hannibal, Jugurtha, Ariovist, Cäsar, Pompejus, Nero, Otho, Bitellius, Domitian, Richards II. von England, Eduards II., Heinrichs VI., Richards III., der Maria Stuart, Karls I., der drei Heinriche von Frankreich, Kaiser Heinrichs IV.; Sie wissen –«

»Ich weiß auch,« sprach Kandid, »das wir unsern Garten bestellen müssen.«

  • Mia: In der Nachbetrachtung der Figuren des Romans erkennt man das Glück des alten Mannes und stellt dem die scheinbaren Glücksfälle vieler berühmter Leute gegenüber, die am Ende Opfer ihrer hohen Position geworden sind.

Entnommen: Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Leipzig 1844.

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