Tipps zum erfolgreichen Kampf gegen die Blockade beim Umgang mit Gedichten (Mat2655-kgb)

Worum es hier geht:

Gedichte können wie eine Mauer sein …

aber man kann sie überwinden – wie viele andere Hindernisse auch.

Wir beginnen hier mit einer Mail, die wir einem Schüler geschrieben haben, der einfach nicht weiterkam. Es war nicht ganz klar, woran es lag. Denn faul war er sich nicht. Er schrieb recht lange Mails – aber er fing nicht mit dem Schreiben an – und sein Problem war die gute Analyse eines Gedichtes.

Irgendwann versuchten wir auf ganz einfache Weise, ihm zu helfen. Daraus wurde diese Mail:

Unsere Mail zum richtigen und ganz einfachen Start

Hallo,

Erst einmal: Es ist absolut verständlich, dass du gerade das Gefühl hast, nicht weiterzukommen. Und es ist gut, dass du das so offen schreibst – denn genau damit kann man arbeiten. Was du beschreibst, ist wie der Moment, in dem man vor einer Mauer steht und denkt: ‚Da komm ich nie drüber.‘ Aber es gibt einen anderen Weg: Man geht ein Stück an der Mauer entlang, schaut links, schaut rechts – und manchmal entdeckt man eine kleine Erhöhung, eine Leiter oder einfach eine Stelle, die niedriger ist. Dann wird aus einer unüberwindbaren Wand ein möglicher Weg. Genau das wollen wir hier gemeinsam tun.

Beispiele aus dem Leben – und was man daraus lernen kann
  • Beim Laufenlernen fällt man am Anfang hundert Mal hin. Aber irgendwann steht man – und merkt: Es geht.
  • Beim Klavierspielen denkt man: Das kriege ich nie hin. Und plötzlich bewegen sich die Finger von selbst.
  • Beim Sport (z. B. Klettern, Schwimmen, Basketball) merkt man oft lange keinen Fortschritt – bis irgendwann ein Sprung kommt, von dem man gar nicht wusste, dass man ihn vorbereitet hat.

Der Sprung kommt oft später – aber er kommt

Das Geheimnis des qualitativen Sprungs

Manchmal hat man das Gefühl, sich nur in der Waagerechten zu bewegen – immer gleich, keine Verbesserung. Aber innerlich baut sich trotzdem etwas auf: Erfahrung, Vertrautheit, kleine Erkenntnisse.

Und dann – irgendwann – kommt ein Sprung. Plötzlich versteht man etwas, das vorher unmöglich schien. Das ist kein Wunder. Das ist ein Zeichen dafür, dass du angefangen hast.

So etwas kennen viele Leute, die ein Instrument spielen wollen – sogar beim Schwimmenlernen ist es besser, auf diesen Moment hinzuarbeiten – als ins Wasser geworfen zu werden.

Warum also das nicht auch beim Umgang mit Gedichten ausprobieren.

Wie du anfangen kannst – ganz konkret

Du musst nicht gleich ein ganzes Gedicht analysieren. Und du musst auch nicht alles verstehen. Nimm dir zehn Gedichte (am besten kurze) und lies jeweils nur die ersten zwei Zeilen. Immer wieder. Frag dich: Was passiert da? Was sehe ich? Welche Stimmung entsteht?

Mehr nicht. Keine Analyse. Keine Deutung. Nur: hinschauen, beschreiben, wahrnehmen.

Das ist der erste Schritt – und der ist ganz in deiner Hand.

Du wirst sehen: Nach dem zehnten Gedicht bist du nicht mehr derselbe Leser wie beim ersten. Und genau das ist der Anfang jeder echten Fähigkeit.

Melde dich, wenn du soweit bist – oder auch zwischendurch, wenn du beim zweiten Gedicht steckenbleibst. Ich begleite dich gern weiter auf dem Weg.

Und viel Erfolg

Vorschläge zum Üben – eine Zeile nur, aber vielsagend 😉

Einstiegsstufe: konkret, anschaulich, nahbar
  1. „Der Mond ist aufgegangen“
    Matthias Claudius, 1779
    Frage: Was sieht der Sprecher? Wie wirkt der Beginn auf dich – beruhigend, poetisch, feierlich?

  2. „Im wunderschönen Monat Mai, / Als alle Knospen sprangen …“
    Heinrich Heine, 1827
    Frage: Welche Jahreszeit? Welche Stimmung? Was kündigt sich an?

  3. „Ich höre das Gras wachsen.“
    Ulla Hahn, aus: „Wiederworte“, 1981
    Frage: Ist das realistisch? Was könnte hier gemeint sein – im wörtlichen oder übertragenen Sinn?


🟡 Mittlere Stufe: Sprachbilder, Irritationen, doppelte Böden
  1. „Ich bin so knallvergnügt erwacht, / Ich klatsche meine Hüften.“
    Joachim Ringelnatz, ca. 1920
    Frage: Wie wirkt diese Selbstbeschreibung? Ist sie ironisch, verspielt oder einfach übermütig?

  2. „Was es ist / Es ist Unsinn, sagt die Vernunft.“
    Erich Fried, aus: „Was es ist“, 1983
    Frage: Was für eine Stimme spricht hier? Was wird gegeneinandergestellt?

  3. „Krähen fliegen über den Schnee, / Der sich auf meiner Heimat häuft.“
    Georg Trakl, ca. 1913
    Frage: Welche Bilder entstehen? Ist Heimat hier ein Ort – oder eher ein Gefühl?

  4. „Einen Abend so kühl, / Dass die Geräusche klirren.“
    Pseudonym: „M. Kaltwort“ (ChatGPT), Stilvorlage: Lutz Seiler meets Jan Wagner
    Frage: Was passiert da? Was heißt „klirren“ in Bezug auf Geräusche? Ist das sachlich oder poetisch?


🔴 Fortgeschritten: Mehrdeutigkeit, Reflexion, intertextuelle Bezüge
  1. „Dies ist die Stunde / da wir uns voneinander erzählen“
    Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“, 1967
    Frage: Welche Art von Beziehung spricht hier? Was bedeutet „erzählen“ im Zusammenhang mit Zeit?

  2. „Ich ging im Walde / so für mich hin“
    Goethe, aus: „Gefunden“, 1813
    Frage: Was für ein Ton ist das? Zufällig? Geplant? Warum geht jemand „so für sich hin“?

  3. „manche meinen / lechts und rinks kann man nicht velwechsern“
    Ernst Jandl, aus: „lichtung“, 1966
    Frage: Was passiert hier mit Sprache? Ist das Fehler – oder Absicht?

Die „Stöber“-Ecke

Und wenn du erst noch ein bisschen rumstöbern willst – aber nicht zu lange 😉

Dann findest du hier noch:

Weitere Infos, Tipps und Materialien