Training Nr. 1 Gedicht analysieren – Wie geht man mit Problemen um (Mat8732-Training)

Worum es hier geht:

  • Wir wollen an einem Beispiel zeigen, wie man ein Gedicht versteht.
    Zu finden ist das Gedicht zum Beispiel hier.
  • Dabei interessieren uns vor allem die Stellen, an denen man etwas nicht versteht.
  • Wir zeigen dann, wie man solche Stellen
    • entweder erst mal umgehen kann
    • oder sie „begehbar“ macht, so dass man doch weiterkommt.

Damit das jeder nachvollziehen kann, beschreiben wir genau, wie wir vorgegangen sind.

Gezeigt wird das am Beispiel eines Gedichtes, das unser Referenz-Schüler Latus Crux für uns ausgesucht hat. Mit ihm haben wir den Vorgang dann durchgespielt.

Und er war am Ende sehr zufrieden – dann hoffen wir mal, dass das bei allen so funktioniert.

Wir werden auch noch ein Video machen, in dem wir den Ablauf zeigen.

Auswertung der Überschrift -> Leserlenkung

Hier also nun das Gedicht – so wie man es in einer Klassenarbeit oder Klausur bekommen könnte.

Eine mögliche Aufgabenstellung interessiert uns hier erst mal nicht – weil es nur darum geht, das Gedicht zu verstehen.

Tipp1: Das Wichtigste ist Entspannung. Wenn man verkrampft an ein Gedicht herangeht, hat man manchmal schon verloren. Man sieht dann den „Wald“ – also das Ganze – vor lauter „Bäumen“ – das sind die Einzelheiten nämlich nicht mehr.

Am besten stellt man sich vor, dass dieser Eichendorff vor einem steht und sagt: „Du, ich habe mir hier mal aufgeschrieben, was mir so durch den Kopf gegangen ist. Ich lasse dir den Zettel hier mal da und hoffe, dass du damit was anfangen kannst.

  • Schritt 1.1: Überschrift lesen und überlegen, was sie bedeuten könnte und was das Gedicht dann vielleicht präsentiert.
    Also wirklich: Nicht gleich weiterlesen – denn dann verliert man nämlich das Gefühl für die sogenannte „Leserlenkung“. Damit ist gemeint: Jede Zeile eines Gedichtes soll bei uns etwas auslösen – Verständnis oder auch „Irritation“, das heißt: Was ist das denn? Jetzt bin ich aber mal gespannt, was dann wirklich kommt.

    • „Der verspätete Wanderer“
      • Da wandert jemand
      • und er kommt zu spät.
      • Vielleicht verpasst er die letzte Abfahrt mit dem Bus 😉
      • Nun ja, so etwas gab es zu Eichendorffs Zeiten vor mehr als 200 Jahren noch nicht, aber vielleicht hat das Gasthaus schon geschlossen und er bekommt nichts mehr zu essen.
Auswertung der ersten Strophe

Die erste Strophe lautet:

  1. Wo aber werd ich sein im künftgen Lenze?
    • Am wichtigsten: Sich in die Situation des lyrischen Ichs versetzen
    • Hier ist jemand, der sich selbst eine Frage stellt, was die Zukunft angeht und zwar den „künftigen Lenz“
      • Eine kluge Lehrkraft stellt Hilfsmittel bereit, so dass man dann weiß, dass „Lenz“ ein altes Wort für „Frühling“ ist.
      • Und „künftig“ hängt mit „Zukunft“ zusammen. Es geht also um den kommenden Frühling, der aus irgendeinem Grunde für das lyrische Ich wichtig ist.
    • Leserlenkung:
      Wahrscheinlich weil es sich um eine schöne Jahreszeit handelt nach dem kalten Winter.
  2. So frug ich sonst wohl, wenn beim Hüteschwingen
  3. Ins Tal wir ließen unser Lied erklingen,
    • Das hört sich nach einer gemeinsamen Veranstaltung an, bei der vor Freude Lieder gesungen hat.
  4. Denn jeder Wipfel bot mir frische Kränze.
    • Häufig wurden bei festlichen Veranstaltungen aus Pflanzenmaterial Kränze geflochten.
    • Insgesamt wird deutlich, dass das lyrische Ich mit dem Gedanken an den kommenden Frühling „sonst“, also früher schöne Erinnerungen verbindet.
    • Leserlenkung: Man kommt auf die Idee, dass sich hier etwas negativ verändert hat.
Auswertung der 2. Strophe
  1. Ich wusste nur, dass rings der Frühling glänze,
    • Wichtig ist hier, dass man das „wusste nur“ in Verbindung sieht mit dem Wort „sonst“ in der 1. Strophe.
    • Dann wird nämlich klar, dass die zweite Strophe ein Rückblick ist auf die frühere Situation.
      • Entscheidend sind „der Frühling glänze“ – es  wird immer deutlicher, dass der Frühling hier für die schöne Zeit des Jahres steht.
  2. Dass nach dem Meer die Ströme leuchtend gingen,
    • In Zeile 6 die Ströme, die nach dem Meer gehen – typisch romantische Sehnsucht nach der Ferne.
  3. Vom fernen Wunderland die Vögel singen,
    • Das wird dann in Zeile 7 noch mit dem Gesang der Vögel verbunden, über den man angeblich etwas von einem „fernen Wunderland“ erfährt – auch hier wieder Sehnsucht und natürlich besonders intensive Fantasie.
  4. Da hatt das Morgenrot noch keine Grenze. („hatt“ = „hatte“)
    • Zeile 8 dann der Sprung aus der Vergangenheit in die Gegenwart, die offensichtlich dem „Morgenrot“, also dem neuen Tag „eine Grenze“ setzt.
    • Zwischenfazit:
      • Aus Frage nach der Zukunft und dem Rückblick ist deutlich geworden, dass die Gegenwart begrenzt ist.
      • Deutungshypothese: Altersproblem, weniger Lebenszeit, vielleicht auch weniger Kraft und Lust zu großen Unternehmungen.
  1. Jetzt aber wirds schon Abend, alle Lieben
    • Offensichtlich geht es jetzt um die eben genannte Grenze.
    • Hypothese: Hier geht es eher um den Lebensabend, vor allem, wenn man die nächste Zeile hinzunimmt.
  2. Sind wandermüde längst zurückgeblieben,
    • Diese Hypothese bringt einen auch hier weiter.
    • Denn es ist ja nirgendwo von einer Tageswanderung die Rede, die man am nächsten Morgen fortsetzen kann.
    • „zurückgeblieben“ heißt dann auch: Sie sind nicht da – und in dem Zusammenhang des Lebens heißt das, dass sie nicht mehr da sind, also vor dem lyrischen Ich gestorben sind.
    • Deutungshypothese:
      Wenn man jetzt noch die Überschrift im Kopf hat, ahnt man, was hier „verspätet“ heißt,  das lyrische Ich ist zeitlich zurückgeblieben, nämlich was den Todeszeitpunkt angeht.
  3. Die Nachtluft rauscht durch meine welken Kränze,
    • Hier wird deutlich, dass die Nacht sich schon bemerkbar macht.
    • Wichtig das Symbol der Kränze, die für Lebensfreude stehen
    • Sie sind jetzt verwelkt, was der eigenen Alterssituation entspricht.
  1. Und heimwärts rufen mich die Abendglocken,
    • Wenn man diesen Lebens- und Todeszusammenhang erst mal begriffen hat und dann etwas von „Abendglocken“ liest, ist es nicht mehr weit zu der folgenden
    • Deutungshypothese:
      Offensichtlich erwartet das lyrische Ich für seine Lebensreise eine Rückkehr zur Heimat.
    • Wer ein bisschen christliche Vorstellungen kennt, der weiß auch, dass da von der „ewigen Heimat“ die Rede ist, auf die man zugeht.
    • Zusatzwissen, das man nicht haben muss, das aber die Hypothese unterstützt:
      Wenn man schon andere Gedichte von Eichendorff kennt oder etwas über sein Leben gelesen hat, weiß man zusätzlich, dass er ein ziemlich frommer Katholik war.
  2. Und in der Einsamkeit frag ich erschrocken:
    • Jetzt eine Wende von der Heimatidee der Zukunft, wo man glaubt, auch die schon „Zurückgebliebenen“ wiederzusehen,
    • in die Einsamkeit der Gegenwart.
    • Und dann ein ganz normales menschliches Erschrecken – das auch ein Christ erleben kann:
  3. Wo werde ich wohl sein im künftgen Lenze?
    • Das lyrische Ich nimmt die Anfangsfrage wieder auf und
      • fragt sich entweder, ob es den nächsten Frühling noch erleben wird
      • oder wo er nach dem Tod genau sein wird.

Zusammenfassung/Auswertung:

  1. Möglichst locker an das Gedicht rangehen – wenn man im Stress ist, sieht man „den Wald vor lauter Bäumen“ nicht. Deshalb ist es auch wenig hilfreich,
    • Schülis am Anfang mit der Zusammenfassung des Inhalts zu beauftragen. Denn auch hier muss man das Gedicht für eine solche Aufgabe erst verstanden haben –
    • oder gleich nach „sprachlichen Mitteln“ zu fragen – denn Mittel dienen immer einem Zweck, also muss man erst die Aussage des Gedichtes verstanden haben – dann kann man sich überlegen, welche Mittel der Autor verwendet hat.
    • Hier merkt man übrigens auch, dass dieses Checklisten-Abarbeiten – nach dem Motto: O, eine Metapher – o ein Parallelismus -, o eine Steigerung nicht so wichtig sind wie die folgenden „strategischen“ Einfälle, die Eichendorff gehabt hat:
      • die zentrale Bedeutung des Frühlings als den nächsten Neuanfang des Jahres
        der zugleich steht für Abenteuer und buntes Leben
      • dann der Gegensatz zwischen den Frühlingshoffnungen früher und dem Schlüsselwort „Grenze“ für die Gegenwart. Je älter man wird, desto mehr wird einem die Begrenztheit des Lebens bewusst.
      • Dann die Übertragung der Zeitvorstellungen auf das ganze Leben mit dem Ergebnis,
        • dass das Leben sich dem Abend zuneigt
        • und das Morgenrot eben nicht mehr so vielversprechend ist.
      • Dann die Vorstellung vom Leben als Wanderung,
        • was dann deutlich macht, dass es ein doppeltes Zurückbleiben gibt
          • einmal der anderen, die vorher in Richtung Tod und hoffentlich ewiges Leben abgebogen sind
          • und dem lyrischen Ich selbst, das sich in der Hinsicht „verspätet“ hat – es kommt nämlich im Himmel später an.
          • und ist in der Gegenwart einsam und verwelkt.
      • Damit verbunden die Vorstellung von einer himmlischen Heimat, auf die der Mensch sich zubewegt. Die Kirchenglocken sind ein Symbol dafür.
      • Am Ende dann die Wiederaufnahme der Frage, wo man im nächsten Frühling sein wird, die ein ganz menschliches Erschrecken auslöst.

Wir hoffen, dass deutlich geworden ist, dass unsere Vorstellung der „strategischen“ oder „literarischen“ Mittel etwas ganz anders sind als die mühsame und häufig unergiebige Suche nach Vertretern aus der langen Liste der „sprachlichen Mittel“. Die spielen für Schriftsteller eine viel geringere Rolle als in den Schulbüchern – meistens ergeben sie sich beim Schreiben ganz nebenbei – man denke an die ganzen Alltagsmetaphern – auch Personifizierungen merkt man im Alltag häufig gar nicht – sie sind also mehr oder weniger wirkungslos, also überhaupt kein Mittel: z.B. „Die Sonne lacht“ – Das sagt man einfach und wichtig ist nur, dass die Sonne scheint.

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