Das Problem der Interpretation schwieriger Gedichte
Problem: Eine Situation und eine Gefahr:
- Man bekommt ein schwieriges Gedicht und ist gleich blockiert.
- Dann versucht man verzweifelt, die Strophen zu verstehen und irgendwie zusammenzufassen.
- Dabei besteht die Gefahr, dass man irgendeiner Idee folgt, die man nicht weiter überprüft.
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Gefunden haben wir das Gedicht hier:
https://www.babelmatrix.org/works/de/Klemm%2C_Wilhelm-1881/Meine_Zeit
Lösung: So kann man die Situation optimal bewältigen:
- Man geht davon aus, dass sich hier jemand über Gedanken und Gefühle äußert.
- Zunächst zeigt das lyrische Ich schon im Titel des Gedichtes, worum es ihm geht, nämlich zu beschreiben, was ihm zu seiner Zeit einfällt. Es geht also um Beobachtungen, Erfahrungen, Einschätzungen, Gefühle u.a.
- Dann überfliegt man das Gedicht und stellt fest, dass der Titel in der Zeile 9 wiederholt wird – zu Beginn des ersten Terzetts – was die Wichtigkeit betont.
- Dann wendet man sich den Strophen zu und versucht zu verstehen, was das lyrische Ich da macht – siehe die eingerückten Erklärungen links.
Detail-Klärungen
- Die Riesenstädte und der Gesang: Der Ausdruck „Riesenstädte“ spiegelt den typischen, oft negativen Blick des Expressionismus auf die moderne Stadt wider. Der Begriff „Gesang“ steht hier vielleicht im Gegensatz zur düsteren Stadtwelt, möglicherweise als etwas Natürliches oder Vertrautes. „Traumlawinen“ könnte das Gefühl verdeutlichen, wie man von der Hektik und dem Bedrückenden dieser Städte überrollt wird, fast wie in einem Albtraum.
- Verblassende Länder und ruhmlose Pole: Die Beschreibung verweist auf den Verlust von festen Grenzen und Orientierungspunkten. Das „Verblassen“ könnte das Verschwinden kultureller Identitäten andeuten, während die „Pole“ zwar noch existieren, aber nicht mehr als bedeutende Bezugspunkte dienen.
- „Sündige Frauen“ und die Not: Dies könnte auf moralische Verfallsthemen und wirtschaftliche Not anspielen, die Frauen vielleicht sogar in eine Art Heldentum zwingen, indem sie ihr Leben trotz schwieriger Umstände meistern.
- Gespenster und Eisenbahnschienen: Die sich zusammenbrauende Gefahr erinnert an etwas Bedrohliches, das in der modernen, technisierten Welt Gestalt annimmt – diesmal symbolisiert durch die Technik wie die Eisenbahn.
- Trommelnde Propeller: Hier wird die moderne Welt durch die Geräusche der Propeller beschrieben. Diese Propeller könnten mit ihrer lauten Präsenz auf die schädigende Wirkung der Technologie auf die Natur verweisen.
- Schmelzende Völker und verwirrende Bücher: Das Thema des Identitätsverlusts durch riesige Städte wird vertieft. Völker scheinen ihre Konturen zu verlieren, und Bücher, die früher Wissen vermittelten, scheinen nun wie „Hexen“ zu verwirren und verhexen.
- Die Seele schrumpft: Der Ausdruck könnte den Verlust menschlicher Tiefe symbolisieren, mit einer möglichen Anspielung auf Sigmund Freuds Theorien, indem die Seele sich in „Komplexe“ auflöst, also in zersplitterte psychische Einheiten.
- Tod der Kunst und beschleunigter Zeitfluss: Die Kunst wird als etwas Totes beschrieben, vielleicht im Bezug auf frühere Ideale, die verloren gegangen sind. Die zunehmende Geschwindigkeit des Lebens verstärkt das Gefühl der Gefährdung und Leere.
- Die zerrissene Zeit: Im ersten Terzett wird die innere Zerrissenheit und Identitätslosigkeit der Zeit zusammengefasst – sie ist „namenlos“ und damit unfassbar.
- Ohne Stern, arm an Dasein im Wissen: Ein Verweis auf die Abwesenheit von Transzendenz oder von höheren Werten. Wissen führt nicht zur Erfüllung; stattdessen wird das Leben ärmer.
- „Wie du, will keine“: Diese Zeile spricht die Zeit direkt an und scheint zu betonen, dass keine andere Zeit vergleichbar sei – vielleicht als Ausdruck des persönlichen Leidens im Umgang mit dieser besonderen Epoche.
- Die erhobene Sphinx: Die Sphinx erscheint als Symbol für Rätsel und Gefahren, die diese Zeit bereithält, ähnlich wie die Riesenstädte und Traumlawinen der ersten Strophen.
- Furchtloser Blick in den Abgrund: Die letzten Zeilen fassen das Verhältnis des lyrischen Ichs zur Zeit zusammen: Es steht vor den Rätseln dieser Epoche und sieht einen Abgrund des Wahnsinns vor sich, der Qual, aber auch Furchtlosigkeit deutlich macht. Das wünscht sich das lyrische Ich wahrscheinlich.
Zusammenfassung der Stropheninhalte: Die erste Strophe beschreibt Schlagworte, die das lyrische Ich mit seiner Epoche verbindet: Städte, Gefahren, Verlust moralischer Werte und das Gefühl, von allem überrollt zu werden. Die zweite Strophe vertieft die zerstörerische Wirkung der Moderne. Die beiden Terzette bieten eine persönliche Bewertung dieser Epoche, die als trauriger Tiefpunkt mit Verlust von Klarheit und Sicherheit beschrieben wird. Abschließend steht das lyrische Ich allein und mutig, dem Abgrund der Zeit gegenüber, ohne Angst und mit der Erkenntnis der möglichen Verzweiflung.
Zusammenfassung der Tipps und Hilfen
- Gedichte sind eine besondere Form der einseitigen Kommunikation. Am besten stellt man sich vor, da sitzt einer und redet vor sich hin – bruchstückhaft, zum Teil unverständlich.
- Man muss sich „seinen Reim darauf machen“ – wie es in einer sprichwörtlichen Wendung heißt. Gemeint ist damit: Das Gedicht liefert etwas – und man muss versuchen, so viel Sinn (Aussage und Bedeutung) aus ihm rauszuholen, wie es geht.
- Nach dem ersten Lesen Deutungshypothese formulieren: „Das Gedicht zeigt die Probleme der Zeit, in der das lyrische Ich lebt. Sie sind vor allem Verschwinden von Sicherheiten bis hin zu tödlicher Rätselhaftigkeit bestimmt.
- Level 1: Das aufnehmen, was einigermaßen klar gesagt wird: Zeile 9-11 und 10-12
- Level 2: Was nicht ganz klar ist – hier versuchen, so nah wie möglich am Text zu bleiben, aber ihn mit Verständnis anfüllen: „verblaßte Länder“ („Not und Heldentum“, „Bücher werden Hexen“)
- .Level 3: Was gar nicht klar wird, selbst erklären, möglichst im Zusammenhang, wichtig: immer als Verständnishypothese kennzeichnen:Was bedeutet „Gesang“ am Anfang?, warum „Traumlawinen“)
- Wenn man den Inhalt verstanden hat, die Strophen inhaltlich zusammenfassen. Am besten setzt man den Satz fort: „In der ersten Strophe präsentiert das lyrische Ich seine Eindrücke vom Leben in Riesenstädten, das vieles von früher verblassen lässt, Gefahren mit sich bringt und Menschen zwingt, auf ihre Art zu Helden zu werden.“
- Das setzt man dann bei den folgenden Strophen fort – und achtet vor allem auf Erweiterungen/Änderungen.
Weitere Infos, Tipps und Materialien