Anders Tivag, „Man versteht sich“ (Mat5462-mvs)

Worum es hier geht:

  • Wir präsentieren hier ein Gedicht, das Mut macht, ganz einfach loszulegen.
  • Am Anfang steht eine Idee,
  • dann macht man daraus einen Text,
  • der möglichst von vornherein auf das unbedingt Notwendige gekürzt sein könnte
  • und einen eigenen, passenden Tonfall hat.

Wie dieses Gedicht entstanden ist, wird weiter unten erklärt.

Das Gedicht

Anders Tivag

Man versteht sich

  1. Als sie sich
  2. Kennen lernten,
  3. Redeten sie
  4. Nächtelanng
  5. Und lernten sich
  6. Immer besser kennen.
  7. Als sie zusammenzogen
  8. Und die Karriere
  9. Sie einspannte
  10. Und das eine oder andere Kind.
  11. Wurde die Zeit für
  12. Gespräche
  13. knapper.
  14. Aber das machte
  15. Nichts,
  16. Denn sie verstanden sich
  17. Auch ohne
  18. Worte
  19. Ihre Freunde
  20. Beneideten sie darum
  21. Bis zu dem Tag,
  22. Als er sie fragte
  23. Was meinst du denn?
  24. Und sie antwortete,
  25. Ach, du verstehst
  26. Mich doch auch so.

Wie ChatGPT das Gedicht beurteilt hat

Wir haben schon häufig darauf hingewiesen, dass es eine gute Möglichkeit ist, eigene Ideen und dann auch Texte mal der KI zu zeigen.
Die reagiert nämlich freundlich und sehr viel mehr auch „vorurteilsfrei“, als man es bei Mitschülern und vielleicht sogar bei der einen oder anderen Lehrkraft erfährt.

Das ist stark, Anders– wirklich stark.
Ein kleines Gedicht, das still zuschnappt.

Hier ein kurzer, klarer Blick darauf (und du sagst mir, ob du es eher als Werkkommentar oder als Diskussionsimpuls gedacht hattest):


*Interpretationsskizze zu „Man versteht sich“ (Anders Tivag)

  1. Sprachlich schlicht, psychologisch präzise:
    Der Text arbeitet mit unscheinbaren Alltagsverben („kennenlernen“, „reden“, „verstehen“), aber gerade diese Schlichtheit trägt die Ironie.

  2. Vom „Reden“ zum „Verstehen ohne Worte“:
    Der Weg von Zeile 1 bis 17 wirkt zunächst wie eine Liebesgeschichte mit Reifeprozess – vom Austausch zur stillen Harmonie.

  3. Kippmoment:
    Die Freunde beneiden das Paar – und genau an dieser Stelle (Z. 18–20) legt das Gedicht die Falle: Was als Ideal galt, kippt ins Verstummen.

  4. Der finale Schlag:
    Die direkte Rede (Z. 21–25) bringt das Drama ans Licht: Das vermeintliche Einverständnis ist nur noch Gewohnheit, und ihre Antwort „Ach, du verstehst mich doch so“ ist zugleich Abwehr und Ausweichung.

  5. Thema und Wirkung:
    Es ist ein Gedicht über Kommunikationsverarmung im Gewand von Vertrautheit – oder anders gesagt: über das Schweigen, das sich selbst für Verstehen hält.
    Der letzte Satz könnte auf einem Epitaph für viele Beziehungen stehen.

Interview mit Anders Tivag über sein Gedicht „Man versteht sich“

(Ein Gespräch, das vielleicht nie so geführt wurde – und trotzdem wahr ist.)

Interviewer: Herr Tivag, Ihr Gedicht „Man versteht sich“ wirkt schlicht, aber es hat eine leise Sprengkraft. Wie ist es entstanden?

Tivag: Eigentlich aus zwei völlig verschiedenen Situationen. Auf Reddit hatte ich gerade mit einem Dichterkollegen über Reime diskutiert – er kämpft mit ihnen, ich meide sie oft. Mir geht es mehr um Rhythmus und Verdichtung. Worte sollen klingen, ohne Ketten zu tragen.

Interviewer: Also eine Art kleine poetische Befreiung?

Tivag: Genau. Und dann, beim Mittagessen mit meiner Frau, kamen wir auf das Thema Kommunikation in Beziehungen – also auf diese vertraute Form des Schweigens, die man leicht für Verständnis hält. Und da zündete der kleine Vulkan: Was wäre, wenn das Missverständnis gerade darin liegt, dass man sich zu gut zu kennen glaubt?

Interviewer: Und so entstand die Szene am Ende?

Tivag: Ja, das war der Moment, an dem sie sagt: „Ach, du weißt doch.“ Ich überlegte kurz, ob ich diesen Satz ganz ans Ende setzen soll – als stilles Echo, das zeigt, wie wenig noch gesagt wird. Vielleicht baue ich ihn noch ein.

Interviewer: Das Gedicht erzählt also mehr als eine Liebesgeschichte.

Tivag: Es erzählt den Weg vom Reden zum Verstummen – und wie beides verwechselt werden kann. Anfangs reden sie „nächtelang“, am Ende reden sie nicht mehr – weil sie glauben, alles zu wissen. Das ist tragisch und tröstlich zugleich.

Interviewer: Und Ihr Reddit-Kollege?

Tivag: Ich werde es ihm schicken. Vielleicht hilft es ihm, den Reim loszulassen – oder wenigstens zu zähmen. Manchmal entsteht die stärkste Musik, wenn man die Noten einfach weglässt.

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