Anstoßtext: Begriffe als Endstufe und zugleich vorschneller Tod des Verstehens?

Worum es hier geht:

Ausgangspunkt war unser Unbehagen an der zum Teil verzweifelten Suche der Schülis nach den berühmten „sprachlichen Mitteln“ – und wenn ein Begriff dann passend erschien: ein Punkt im Bewertungsbogen, ein Seufzen der Erleichterung auf der anderen Seite – und spätestens nach dem Abitur endgültiges Vergessen. Sinn von Bildung?

Das hat unseren „Behelfsschriftsteller“ Anders Tivag den folgenden Anstoßtext schreiben lassen:

Anders Tivag

Begriffe als Endstufe und zugleich vorschneller Tod des Verstehens?

Im schulischen Deutschunterricht – und nicht nur dort – begegnen wir immer wieder dem Spannungsfeld zwischen dem genauen Beschreiben von Phänomenen und dem schnellen Griff zum passenden Fachbegriff. Auf den ersten Blick scheint beides zusammenzugehören: Wer ein sprachliches Mittel erkennt, soll es benennen können – sei es Metapher, Ironie oder Personifikation. Doch auf den zweiten Blick stellt sich eine unbequeme Frage: Verstehen wir wirklich mehr, wenn wir das richtige Etikett finden? Oder halten wir nur das Nachdenken an, sobald der Begriff gefunden ist?

Begriffe – Werkzeuge der Verständigung

Fachbegriffe haben unbestrittene Vorteile. Sie erlauben eine rasche Verständigung über komplexe Inhalte, bündeln Beobachtungen und schaffen Ordnung. Gerade im wissenschaftlichen Kontext sind sie unverzichtbar: Wer sich über Literatur, Psyche oder Sprache austauschen will, braucht ein gemeinsames Vokabular. Begriffe helfen beim Einordnen, Vergleichen, Diskutieren. Sie zeigen, dass man sich mit einer Theorie auseinandergesetzt hat – und sie sind oft Türöffner in weiterführende Diskurse.

Begriffe – Endstation des Denkens?

Doch Begriffe können auch etwas zum Stillstand bringen. Wer vorschnell ein Phänomen benennt, läuft Gefahr, es nicht mehr genau zu betrachten. Der Begriff ersetzt dann die Beobachtung – und das Denken kommt zum Erliegen. Paul Feyerabend hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass jeder Begriff auch schon ein Einstieg in ein bestimmtes Paradigma ist. Das heißt: Wer einen Begriff verwendet, sieht die Welt durch eine bestimmte Brille. Das kann helfen – aber es kann auch andere Sichtweisen verdecken.

Was bedeutet das für den Deutschunterricht?

Gerade in der Schule wird häufig auf die richtige Begriffsverwendung gesetzt. In Klassenarbeiten steht dann: ‚Nenne das sprachliche Mittel!‘ – und die Freude ist groß, wenn ein Schüler „Anapher“ schreibt. Doch das eigentliche Verstehen bleibt oft auf der Strecke. Was bewirkt die Wiederholung? Warum ist sie an dieser Stelle eingesetzt? Welche Wirkung entfaltet sie im Zusammenhang? Solche Fragen geraten leicht in den Hintergrund, wenn die Begriffserkennung zur Hauptsache wird.

Beobachten statt Benennen?

Vielleicht wäre es sinnvoll, Schüler*innen zunächst zu ermutigen, Phänomene zu beschreiben, bevor sie sie benennen. Statt sofort nach dem „richtigen Begriff“ zu fragen, könnte man fragen: Was fällt dir auf? Was spürst du beim Lesen? Welche Wirkung hat dieser Satz auf dich – und woran liegt das? Aus solchen Fragen wächst echtes literarisches Verstehen. Begriffe dürfen dann gerne dazukommen – aber als Mittel, nicht als Ziel.

Fazit

Begriffe sind keine Feinde des Verstehens – aber sie sind auch keine Ersatzlösung. Sie können das Denken strukturieren, aber auch stoppen. Deshalb braucht es im Unterricht beides: das genaue Hinsehen und das präzise Benennen, das Staunen und das Systematisieren, das Spüren und das Einordnen. Nur wenn wir beides zusammendenken, entsteht echtes Verstehen – und vielleicht auch eine neue Lust auf Literatur.

Ergänzendes Schlusswort:
Vor dem Hintergrund der Frage, wohin sich Schüler*innen später entwickeln – in spezialisierte Fachrichtungen oder in lebenspraktisches, reflektierendes Denken – spricht vieles dafür, im Zweifel der Beschreibung eines Phänomens mehr Gewicht zu geben als dem manchmal zufälligen Treffer eines Fachbegriffs. Denn echtes Verstehen wächst aus dem Wahrnehmen, nicht aus dem bloßen Benennen.

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