August Stramm, „Patrouille“ – grandios – hier wird es nachgeahmt (Mat7276-lc-lk)

Worum es hier geht:

Auf der Seite
https://schnell-durchblicken.de/gedicht-knacken-indem-man-sich-hinein-versetzt-stramm-patrouille
und in einem Video
https://youtu.be/R6BrA16CWdg
haben wir gezeigt, dass es Gedichte gibt, die man am besten so „knackt“: Man versetzt sich in sie hinein, d.h. in die Situation, die dort gegeben ist bzw. erkennbar wird.

Die Dokumentation kann hier angeschaut werden:
Hier nun haben ein ehemaliger Deutschlehrer und ein Schüler, der uns immer wieder Anregungen liefert, mal versucht, die Eigenart von Stramms Gedicht nachzuahmen – allerdings ohne Krieg.
Es soll gerade gezeigt werden, wie man auch ganz normale Situationen in einem Gedicht gestalten kann.Und das Gedicht von Stramm hat den Vorteil, dass man sicher viel denken, aber nur wenig schreiben muss.
Schauen wir es uns einfach mal an.
Zunächst das Gedicht von August Stramm:

August Stramm

Patrouille

1.Die Steine feinden
2.Fenster grinst Verrat
3.Äste würgen
4.Berge Sträucher blättern raschlig
5.Gellen
6.Tod.

Nun das Gedicht von Latus Crux:
  1. Sonne nicht durchscheinend
  2. Geräusche überall
  3. Verdrängt ein Mann
  4. Suchend nicht findend
  5. Fall
  6. Ende
Dann die Interpretation von Lars Krüsand
  1. Das Gedicht wird aus einer Perspektive präsentiert, bei der die Sonne scheint, aber sie kommt nicht richtig durch.
    Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich eine entsprechende Situation vorzustellen.
    Am einfachsten ist wohl eine, in der das lyrische Ich zum Beispiel in einem Arbeitsraum sitzt, dessen Fenster undurchsichtig oder abgedunkelt sind.
  2. Die zweite Verszeile erweitert dann die Optik durch die Akustik. Das lyrische Ich nimmt überall Geräusche wahr, die es möglicherweise als störend empfindet.
    Man könnte also sagen, das „zu wenig“ der ersten Zeile wird auf negative Art und Weise ausgeglichen durch ein „zu viel“.
  3. Die dritte Zeile bezieht sich dann auf einen Mann, der verdrängt worden ist.
    Diese Zeile enthält natürlich besonders viele Interpretations-Spielräume.
    Rein hypothetisch wählen jetzt mal einen, der zu den ersten beiden Zeilen passt. Verdrängt würde dann das lyrische Ich, das bedauernd feststellt, dass es sein wahres Selbst als Mann nicht ausleben darf.
  4. Diese Deutungshypothese passt gut zur folgenden Zeile. Die bekäme Bedeutung, wenn das lyrische Ich sich bezogen auf die Situation oder auch ganz allgemein als jemand versteht, der etwas sucht und nicht findet.
    Das könnte es auf einer konkreten Ebene möglicherweise eher finden, wenn das Fenster durchscheinend wäre und sich die Geräusche lokalisieren und zuordnen ließen.
  5. Die nächste Zeile ist dann in ihrer extremen Kürze auch wiederum sehr vieldeutig.
    Das lyrische Ich könnte zum Beispiel auf so unglückliche Art und Weise seiner Sehnsucht gefolgt sein, dass es vom Stuhl gefallen ist und sich im Extremfall das Genick gebrochen hat.
  6. Ähnlich wie in August Stramms Gedicht „Patrouille“ präsentiert die letzte Zeile dann eine Außen-Sicht präsentieren, die möglicherweise die Grundhaltung enthält:
    Ende eines Träumers.
Kritische Anmerkung von Latus Crux zu dieser Interpretation
  • Insgesamt kann ich das meiste nachvollziehen – bis auf den Schluss.
  • Das mit dem Genickbruch ist eine eher satirisch-ironische Variante, wie man sie von Lars Krüsand kennt.
  • Es gibt aber eine bessere Möglichkeit, bei der die Negativlinie der ersten vier Zeilen konsequent zu Ende geführt wird.
    Der „Fall“ ist dann der Absturz des Mannes – am ehesten wohl seelisch und dann auch das Herz angreifend. Das kann dann auf natürliche, wenn auch traurige Weise zum „Ende“, nämlich dem Tod führen.
„Gegengedicht“ von Lars Krüsand 
  • „Das Fenster grinst,“
    • Deutlich ist hier natürlich eine Anspielung auf das Gedicht „Patrouille“. In der Filmwissenschaft würde man von einem „Zitat“ sprechen. Das ist nicht zu verwechseln mit dem, was beim Zitieren aus einem Text entsteht.
      Vielmehr geht es um etwas, was man auch „Intertextualität“ nennt – ein Text bezieht sich in gewisser Hinsicht auf einen anderen. Wer beide Texte kennt, merkt das auch.
    • Beim „Fenster“ denkt man gleich an eine Perspektive. Zunächst wurde an einen Blick nach außen gedacht, was dem Gedicht von Latus Crux entsprochen hätte.
    • Viel besser ist aber die Gegenrichtung. Also der Blick durchs Fenster nach innen.

      • Ein Mann hat sich endlich mit Verabredung mit einer Frau verabreden können.
      • Er geht an den Fenstern des Restaurants vorbei, in dem er die Frau erwartet. Sie ist nirgendwo. Da er weiß, dass sie immer pünktlich ist, bleibt nur eine Erklärung: Sie wollte doch nicht kommen.
    • Kommen wir zum „Grinsen“.
      • Der Mann in seiner Verzweiflung hat den Eindruck, das Fenster, durch das er zuletzt geschaut hat, grinst ihn an und macht sich über ihn lustig:
      • nach dem Motto: „Lass das Gucken, dich will keiner sehen“.
      • Es geht nicht darum, ob das beim Fenster so ist. Es ist der Mann, dessen Inneres ihn so etwas sehen lässt.
  • „verfehlte Freude“
    • In den zwei Worten wird alles deutlich: Die Vorfreude und ihre „Verfehlung“ – wie wenn man ein Ziel verfehlt.
  • „Ein Stau wird Untier“
    • Der Mann entscheidet sich, möglichst schnell seine Lieblingskneipe aufzusuchen.
    • Er will sein Leid in Alkohol ertränken und sich von seinem Lieblings-Barkeeper trösten lassen.
    • Dummerweise gerät er in einen Stau, der ihm wie ein Untier vorkommt, ein Lebewesen, das ihm jetzt noch zusätzlichen Kummer bereitet, ihn vielleicht sogar bedroht.
  • „Flucht wär Klapperliege“
    • Er denkt nur noch an Flucht
    • und da fällt ihm die Klapperliege seines Freundes Latus Crux in dessen Garten ein.
    • Der hat soviel Entspannendes dort erlebt und ihm erzählt, dass das eine echte Alternative wäre.
  • „Was man hier braucht“
  • Ist Latus Crux“
    • Nach der Barkeeper-Idee ist klar, dass die „Klapperliege“ nicht reicht.
    • Offensichtlich ist dieser Latus Crux, in dem in diesem Gedicht auf feinsinnige Art und Weise angespielt wird, eine echte und sicher die bessere Alternative.
    • Dazu noch ohne Alkohol und schweren Kopf am nächsten Morgen.

Dem Protokollanten dieses Interpretationsgesprächs zwischen Lars Krüsand als Verfasser und Latus Crux als ungeahntem Stichwortgeber ist nur noch das Wort „Heimspiel“ im Gedächtnis geblieben. Als das verstand er nämlich dieses Gedicht: Er musste hier nicht viel Fantasie entwickeln, er befand sich fakten- und stimmungsgemäß auf vertrautem Gelände.

Anregung

Wir hoffen, dass sowohl die Produktion dieser beiden Gedichte als auch ihre nachträgliche inhaltliche Erklärung Mut gemacht haben, so etwas auch mal selbst zu probieren.

Man  muss sich nur eine Situation vorstellen, sie mit einigen Stichwörtern zu Zeilen verarbeiten – und der Rest ist dann Sache derer, die eine Interpretation auch mal probieren wollen.

Um mögliche Gemeinheiten zu vermeiden (Aneinanderreihung von Wörtern, die kaum einen Sinn ergeben können – oder nur einen äußerst angestrengten),
Sollte es selbstverständlich sein, dass der Autor seine Erklärung mitliefert – dann haben beide Seiten etwas davon – und der Zweck der Übung ist damit erreicht.

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