Eugen Gomringer und der Streit um sein Gedicht „avenidas“ – ein Fall von cancel culture? (Mat7378)

Im Folgenden geben wir eine kurze Übersicht über einen interessanten Fall von „cancel culture“.

  • Das Gedicht „avenidas“ wurde 1951 vom Schweizer Lyriker Eugen Gomringer verfasst und gilt als Begründung der Konkreten Poesie.
  • Es besteht aus nur sechs spanischen Wörtern (Alleen, Blumen, Frauen, und, ein, Bewunderer), die in verschiedenen Kombinationen wiederholt werden.
    Zu sehen ist es zum Beispiel in diesem Zeitungsartikel, der auch genauer auf Details eingeht.
  • 2011 wurde das Gedicht an der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin angebracht, als Dank für einen Poetik-Preis.
  • 2016 forderte der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) die Entfernung des Gedichts wegen angeblich sexistischer Inhalte.
  • Kritiker sahen in dem Gedicht eine Objektifizierung von Frauen, da sie neben Straßen und Blumen genannt und von einem männlichen „Bewunderer“ betrachtet werden.
    • Das Gedicht wurde als sexistisch kritisiert und als Reproduktion patriarchaler Kunsttradition angesehen..
    • Auch wurde argumentiert, dass das Gedicht an alltägliche sexuelle Belästigung von Frauen erinnere.
  • Verteidiger des Gedichts, darunter Gomringer selbst, betonten die künstlerische Freiheit und die Bedeutung des Werks für die Konkrete Poesie.
    • Kritisiert wird also ein Eingriff in die Kunstfreiheit..
    • Damit einher geht die Warnung vor Zensur und falsch verstandener politischer Korrektheit.
    • Betont wird auch die Bedeutung Gomringers für die konkrete Poesie.
  • Die Debatte weitete sich zu einer gesellschaftlichen Diskussion über Kunstfreiheit, Sexismus und den Umgang mit historischen Werken aus.
  • 2018 beschloss der Akademische Senat der Hochschule, das Gedicht zu entfernen und durch ein Werk der Lyrikerin Barbara Köhler zu ersetzen.
  • Die Entscheidung wurde kontrovers diskutiert, mit Vorwürfen der Zensur einerseits und Lob für die Sensibilität gegenüber Diskriminierung andererseits.
  • Der Fall „avenidas“ steht exemplarisch für die Herausforderungen im Umgang mit Kunst im Kontext sich wandelnder gesellschaftlicher Normen und Sensibilitäten.

Anregungen für Diskussionen:

  • Interessant könnte hier die folgende Seite sein:
    Lars Krüsand, „Zur Cancel Culture: Man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten“
    https://textaussage.de/lars-kruesand-cancel-culture-bad-und-kind
  • Kann man die Beurteilung von Elementen der Vergangenheit nicht den Betrachtern überlassen, solange die Objekte nicht in eindeutiger Weise Menschen oder Überzeugungen verächtlich machen?
  • Besteht nicht die Gefahr, dass eine Generation etwas entfernt, was spätere Generationen interessieren könnte.
  • Man denke etwa an die Vernichtung der Kulturgüter der indianischen Kulturen Lateinamerikas durch die Spanier.
  • Was bleibt vom Multikulturellen übrig, wenn man alles entfernt, was einem aus unserer Perspektive vielleicht nicht gefällt?
  • Wie könnten Regelungen aussehen, dass kulturelle Überbleibsel aus der Vergangenheit nicht verhindern, dass neuere kulturelle Vorstellungen auch eine Chance haben, sich zu präsentieren.
    Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, alle fünf Jahre etwas Neues zu präsentieren.

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