Facharbeit allgemein: Wie wertet man Quellen aus älteren Zeiten (Kultur, Sprache) aus? (Mat1526)

Worum es hier geht:

Im Folgenden geht es nicht nur um Geschichtsquellen, sondern alle Informationsquellen, die man für eine Facharbeit nutzen will und die aus einer „fremden“ Zeit stammen.

Das erkennt man daran, dass dort Begriffe und Verhaltensweisen auftauchen, die als ganz normal präsentiert werden, die einem aber heute absolut seltsam, fremdartig vorkommen.

Ein besonderes Problem ist, wenn es sich um eine Textquelle handelt, die zwar in deutscher Sprache verfasst wurde, es ist aber eine, die im Wortschatz und im Satzbau eigenartig ist.

Zunächst einmal ein Schaubild, das weiter unten erklärt wird.

 

  1. Wenn man eine Quelle aus früheren Zeiten nutzen will, muss man sie nicht nur auswerten (also das raussuchen, was zur eigenen Fragestellung passt), sondern man  muss sie auch erläutern und manchmal regelrecht übersetzen. Denn die alte Quelle steht nicht nur in einem anderen historischen Kontext, sondern auch in einem anderen kulturellen Kontext, der sich auch durch sprachliche Fremdheit ausdrückt.
  2. Das heißt: Man sucht als erstes passende Stellen – nachdem man sich ein Suchschema gemacht hat.
  3. Dann versucht man das Gefundene zu verstehen.
  4. Anschließend wird es möglichst originalgetreu präsentiert – im richtigen Antwortzusammenhang
  5. und dabei auch übersetzt, so dass am Ende jemand, der die Arbeit liest, sowohl das Original kennt (um es ggf. selbst überprüfen zu können, wenn er sich in Kultur und Sprache auskennt) als auch die Hilfe von dem bekommt, der sich lange damit auseinandergesetzt und es in den heutigen Fragezusammenhang übertragen hat.
Beispiel für die Auswertung eines Textes aus einer früheren Kultur- und Sprachstufe

Wir wollen mal am Beispiel von Kants Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung“, was diese Doppelaufgabe erfordert.

Dabei gehen wir von der Leitfrage aus: „Was für ein Menschenbild hat Immanuel Kant?“

Wir präsentieren hier einen Ausschnitt nach der berühmten Einstiegs-Definition, die allgemein bekannt sein dürfte:

https://de.wikisource.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist_Aufkl%C3%A4rung%3F

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen [482] (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“

  • Auswertung: Kant geht davon aus, dass die Natur die Menschen „längst von fremder Leitung frei gesprochen“ habe.
  • Erläuterung: Das kann die Natur der Welt sein – oder auch die Natur der Menschen zur Zeit Kants, also im Jahre 1784, als diese Schrift erschien. Auf jeden Fall denkt Kant offensichtlich an andere Zeiten, wo der Mensch noch „fremder Leitung“ bedurfte.
    Am einfachsten ist es wohl, wenn man von der Aufklärung ausgeht, die dem Menschen ermöglicht hat, selbstständig denken und handeln zu können.
    Man könnte auch an die Zeit der Renaissance, des Humanismus und der Reformation denken.

„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“

  • Kant stellt hier die Bequemlichkeit als ein Kennzeichen des Menschen heraus und nennt dann einige Beispiele:
    • Zum Beispiel Bücher, die für den Menschen „Verstand“ haben, also ihm sagen, wie er zu denken hat – ohne auf den Gedanken des kritischen Umgangs mit dem Buch zu kommen.
    • Dann Seelsorger, also Vertreter der Kirche, die dem Menschen sagen, was sein Gewissen betrifft und was nicht. Dazu konnte damals zum Beispiel gehören, dass der Selbstmord ein Verbrechen war, das eine Beerdigung auf einem normalen Friedhof unmöglich machte.
    • Schließlich wird der Arzt genannt, der dem Menschen eine Diät vorschreibt. Hier meint Kant wohl, dass man daran denken soll, dass Ärzte auch irren können, andere eine andere Auffassung haben. Das sollte man im Auge behalten und eben selbst prüfen.
  • Dann folgt ein Seitenhieb gegen die Neigung des Menschen, Gedankenarbeit gewissermaßen gegen Geld auszulagern: Kant will offensichtlich, dass man wesentliche Dinge des Denkens nicht an andere abgibt, die man dann nur für die Tätigkeit bezahlt, ohne das Ergebnis zu prüfen.
  • Außerdem geht Kant davon aus, dass der Mensch sich grundsätzlich gegen unangenehme bzw. anstrengende Tätigkeiten sperrt und sie lieber anderen überlässt. Hier müsste man noch „das verdrießliche Geschäft“ erklären – damit ist eine Tätigkeit gemeint, die einen nicht nur anstrengt, sondern einem außerdem noch schlechte Laune macht.

„Daß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften; so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen allein zu gehen.“

  • Als weiteres Kennzeichen des Menschengeschlechts wird von Kant angesehen, dass der größte Teil der Menschheit und besonders der weibliche Teil Mündigkeit, also eigenständiges Denken und Handeln für sehr gefährlich hält.
    Hier sollte man sich über Kants Sicht auf die Frauen nicht lange aufhalten, diese Haltung ist zeitbedingt und Kants Pauschalurteil wird nicht nur den Frauen seiner Zeit nicht gerecht, sie ist auch wenig intellektuell, auf gut deutsch: Ein reines Vorurteil, mit dem Kant wohl kaum seinen eigenen Ansprüchen gerecht wurde.
  • Das mit der Gefährlichkeit muss natürlich genauer geklärt werden – in Zeiten der Unterdrückung ist es klar – aber ansonsten?
  • Kant nennt hier die „Vormünder“ und meint damit wohl diejenigen, die aus irgendeinem Grunde die Herrschaft über diese Menschen übernommen haben, ggf. im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gab viele Menschen, die nicht selbst für sich entscheiden durften. Inwieweit das für Frauen allgemein galt, müsste untersucht werden. Aber man muss nur daran denken, dass Männer und Frauen noch in der früheren Bundesrepublik, also nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gleichberechtigt waren, was etwa Arbeit oder Kindererziehung anging.
    Näheres dazu ist etwa hier zu finden:
    https://www.zeit.de/arbeit/2018-11/geschlechtergerechtigkeit-100-jahre-frauenwahlrecht-familienrecht-diskriminierung-maria-wersig/seite-2
  • Dann wird Kant richtig drastisch, indem er solche Menschen mit Haustieren vergleicht, die sich in einem „Gängelwagen“ bewegen müssen.
    Hier muss man mal nachschlagen und wird zum Beispiel an dieser Stelle fündig:
    https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%A4ngelband

„Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemahl Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern, und schrekt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.“

  • Hier wird deutlich, dass Kant die Gefahren, die den Menschen im Gängelwagen gezeigt werden, gar nicht für so groß hält, und glaubt, dass wiederholtes Fallen und Aufstehen schon ausreicht, um selbstständig zu werden.
  • Hier muss man natürlich kritisch anmerken, dass das sehr theoretisch bleibt und von daher wenig überzeugt.
  • Kant glaubt offensichtlich, dass die meisten betroffenen Menschen einfach nicht bereit sind, ein zweites Mal zu fallen.
  • Man muss hier nur an junge Frauen denken, die ohne Ehemann schwanger wurden – die bekamen in der Regel überhaupt keine zweite Chance, wieder „ehrbar“ zu werden. Man denke an Gretchen in Goethes Faust.

So, wir machen mal an dieser Stelle Schluss, weil deutlich geworden sein sollte:

Beim Umgang mit Texten aus älteren Kultur- und Sprachstufen muss man nicht nur die zur Themafrage passenden Stellen finden, man muss sie auch erläutern und zum Teil übersetzen. Denn die Antwort auf die Themafrage darf nicht – in diesem Falle – in der Sprache Kants erstellt werden, sondern in der heutigen.

Wie kann man einen solchen Text aus einer alten Zeit in moderner Sprache auswerten?

Die Gefahr ist riesengroß, dass man sich von der alten Sprache gefangennehmen lässt und sie einfach nur wiedergibt.

Da hilft vielleicht das folgende Verfahren:

Man liest den „alten“ Text und macht sich darauf ein Schaubild.

Dann formuliert man das Schaubild aus. Das hat den Vorteil, dass man nicht mehr so an den Originalformulierungen Kants hängenbleibt.

Anmerkungen zum Schaubild:

  1. Es kommt dabei nicht auf Schönheit an, sondern dass man eine Vorlage in ein eigenes „Schau – Bild“ – eine eigene Vorstellung überführt.
  2. Hier geht es um den Menschen – und Kants Meinung, dass die folgenden Aussagen für den größten Teil der Menschheit gelten und angeblich für alle Frauen – was nicht nur zeitbedingt, sondern auch dummblind ist. Aber nicht unser Thema.
  3. Der Mensch könnte sich Mündigkeit leisten, weil die Natur ihm Freiheit gibt.
  4. Aber er tut es aus zwei Gründen nicht:
    1. Faulheit bzw. Bequemlichkeit
    2. Feigheit
  5. Verantwortlichkeit:
    1. Am ersten Grund sind die Menschen allein schuld.
    2. Am zweiten arbeiten Vormünder aktiv mit, indem sie Ängste heraufbeschwören.
  6. Ausweg: Natur auch im Hinblick auf die Gefahr nutzen, nämlich nach dem Fallen wieder aufstehen, statt aufzugeben.

Fazit:

Kant zeigt sich hier als ziemlicher Optimist, was die Möglichkeiten des Menschen in Richtung Mündigkeit angeht – und nur zwei Hauptschwächen, die ihn hindern, die Möglichkeiten zu nutzen, nämlich Faulheit und Feigheit.  Letzere wiederum wird von den „Vormündern“ ausgenutzt und damit verstärkt.

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