Goethe – „Der König in Thule“ – Szene „Abend“ in Faust
- „Der König in Thule“ ist schon für sich selbst eine sehr interessante und auch zum Nachdenken anregende Ballade.
- Dazu kommt, dass Goethe sie auch in seine Gretchentragödie im „Faust“ eingebaut hat.
- Von daher gehen wir in zwei Schritten vor:
- Zunächst einmal analysieren wir den Text wie jede andere Ballade – ganz für sich.
- Dann schauen wir, was Goethe damit erreicht, dass er Gretchen diese Ballade singen lässt, „indem sie sich auszieht“. (ca. 2758).
Die Dokumentation zum Video kann hier bald angeschaut bzw. heruntergeladen werden:
Der König in Thule
Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.
- Die Ballade beginnt im Märchen- bzw. in diesem Falle im Sagenstil.
- Hervorgehoben wird zunächst seine Treue, bevor dann von seiner „Buhle“, also Geliebten, die Rede ist.
- Die macht ihm ein Geschenk, dessen Hintergrund und Zweck man nur erraten kann. Wahrscheinlich ist es etwas, was zu ihrem gemeinsamen Leben gehört. Oder sie will ihm noch einmal zeigen, was er ihr wert ist.
- Künstlerisches Mittel: „Grab“ als eine Verschiebung vom „Inhalt“ des Grabes, nämlich in diesem Falle dem Tod, zum Ort des Toten. Das müsste eigentlich für den normalen Deutschunterricht reichen. Hier von Metonymie (Bedeutungsverschiebung) zu sprechen, ist nur was für Fachleute und gehört eigentlich an die Universität.
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Es ging ihm nichts darüber,
Er leert‘ ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
Sooft er trank daraus.
- Die zweite Strophe klärt dann, was am Ende der ersten Strophe nur erspekuliert werden konnte.
- Es handelt sich um seinen oder einen gemeinsamen Becher, den er ständig benutzt hat, der also für sein Leben steht – vielleicht auch das gemeinsame.
- Die zweite Hälfte der Strophe macht dann die Intensität der mit diesem Becher und seiner Nutzung verbundenen Gefühle deutlich.
- Künstlerisches Mittel: „Die Augen gingen ihm über“: Personifizierung und Metapher: „übergehen“ im Sinne von mit dem Tränenfluss beginnen.
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Und als er kam zu sterben,
Zählt‘ er seine Städt im Reich,
Gönnt‘ alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich.
- Diese Strophe löst sich dann von der Vergangenheit, wendet sich der Gegenwart zu, nämlich dem Lebensende.
- Die zweite Zeile beschreibt einen Vorgang, der so sicher nicht ernst gemeint ist. Ausgedrückt werden soll wohl, dass der König auf das schaut, was er erschaffen oder erhalten hat. Auch hier wieder muss man nicht von „pars pro toto“ sprechen – man kann auch einfach sagen, dass die Städte hier für alles stehen, was dieser König weitergeben kann.
- Die zweite Hälfte der Strophe betont dann noch einmal das „Vererben“ als „Gönnen“ und macht dann mit einer nachgeschobenen Einschränkung (hier kennen wir das Fachwort gar nicht und suchen es auch nicht 😉 etwas besonders deutlich, nämlich dass dieser Becher aus der Erbmasse herausgelöst wird. Er wird dem Erben nicht gegönnt. Auch hier kann man erst mal nur spekulieren, warum.
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Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloss am Meer.
- Diese Strophe beschreibt eine Art Abschiedsmahl mit Hervorhebung der für frühere Zeiten wichtigen Gemeinschaft der Ritter.
- Die dritte Zeile ist sprachlich auffällig, weil niemand „auf einem Saal“ sitzen kann. Hier soll wohl deutlich werden, dass er zur Zeit das Oberhaupt einer langen Kette von Generationen ist („Väter“). Hier hat Goethe wohl ein Wort erfunden, um das zusätzlich hervorzuheben. „Vätersaal“ gibt es nicht als normales Wort. Wenn man kann, sollte man von Neologismus sprechen, denn das ist ein so häufiges Phänomen in der Literatur und besonders in Gedichten, dass man sich das ruhig merken kann. Die Fächer Biologie und Chemie verlangen einem Schüler da deutlich mehr ab.
- Die letzte Zeile präzisiert dann den Ort des letzten Lebensgefechtes dieses alten Königs noch etwas und leitet schon über zur Schlussaktion durch den Hinweis auf das Meer.
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Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut,
Und warf den heil’gen Becher
Hinunter in die Flut.
- Die erste Zeile beschränkt diesen König auf zwei Eigenschaften: „alt“, was schon deutlich geworden ist. Interessant ist aber das Wort „Zecher“. Das ist normalerweise negativ „konnotiert“ (auch so ein Fremdwort, das man durchaus kennen sollte – es sagt nämlich aus, dass ein Wort neben der festen Bedeutung (Denotation, hier: Trinker, meist in einer Kneipe, in der man ja auch seine „Zeche“ bezahlen muss) auch noch eine wertende Nebenbedeutung hat, nämlich hier ggf. Richtung eines Menschen, der vielleicht auch unmäßig trinkt. Das ist aber das eigentlich Interessante: Dieser König hat gewissermaßen jede Gelegenheit genutzt, das Leben für sich „auszutrinken“ – hier verwenden wir gerne auch mal eine Neologismus-Wendung 😉
- Da wundert es nicht, dass in der zweiten Zeile noch einer draufgesetzt wird: „Letzte“ passt zu „alt“ und „Grab“. Spannend ist „Lebensglut“, dieses sprachliche Bild (Metapher sollte man auch kennen 😉 denn der Intensität des Trinkens des Lebens wird jetzt noch „Glut“ hinzugefügt – und die ist ja wie jede andere Wärme wichtig, um chemische Prozesse in Gang zu setzen. Das heißt: Dieser König lässt es am Ende noch einmal richtig „rocken“, so heißt es doch wohl im modernen Deutsch 😉
(Wir verweisen hier gerne auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sprache/rocken-80036 - Die letzten beiden Zeilen bieten dann einen starken Abgang –
- zunächst für diesen „heiligen“ Becher (was seine Bedeutung unterstreichen soll, es ist eigentlich eine Überhöhung, das Fachwort suchen wir dafür wieder nicht 😉
- Dann aber auch für den Lebensglut-Zecher, der sich hier mit einer starken Aktion aus dem Leben und der Liebesbeziehung verabschiedet.
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Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer.
Die Augen täten ihm sinken;
Trank nie einen Tropfen mehr.
- Die letzte Strophe hat ein kleines Leitmotiv, nämlich das Sehen.
- Zunächst wird die Flugbahn des geliebten und inzwischen heiligen Bechers verfolgt, was sprachlich durch den Dreiklang von „stürzen, trinken / Und sinken“ unterstrichen wird.
- Goethe hat es hier wunderbar geschafft, die Situation des Königs in ein Dreierbild zu packen:
- Das „stürzen“ steht für das einsetzende Sterben.
- Das „trinken“ steht für den Vorgang, noch einmal Lebensglut in sich aufzunehmen.
- Das „sinken“ steht für einen Menschen, der sich vom Festland des Lebens verabschiedet und in der Vergangenheit verschwindet.
- Das „sinken“ wird dann noch mal wieder aufgenommen – genauso wie die Umschreibung des Weinens in der zweiten Strophe: Die Augen sinken genauso wie der Becher und letztlich auch der König selbst.
- Wenn man das zufällig im Unterricht gemacht hat, kann man darauf hinweisen, in welchem Ausmaß Goethe ein Augenmensch war. Berühmt ist die Stelle aus dem zweiten Teil des Faust: „Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt“.
- Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das Ende des Sehens und das Ende des Lebens hier gleichgesetzt werden.
- Die letzte Zeile präsentiert dann schon eine Art Außensicht, indem festgestellt wird, dass dieser glutvolle Zecher nie mehr etwas trinken wird, also tot ist.
Hier zum Nach-„Schauen“:
Goethe, Faust, Zweiter Teil, V. Akt
Tiefe Nacht.
LYNKEUS DER TÜRMER auf der Schloßwarte, singend.
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick‘ in die Ferne,
Ich seh‘ in der Näh‘
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh‘ ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall‘ ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle,
Es war doch so schön!
Kommen wir jetzt zur zweiten Frage, welche Funktion im Hinblick auf das Aussagepotenzial von Faust I dieses Balladen-Lied in der Tragödie hat.
Hierbei ist wichtig, die Situation zu klären, in der Gretchen das Lied singt.
- In der Szene „Straße I“ ist Gretchen von dem nach der Hexenküche liebestollen Faust ( der in jeder Frau die schöne Helena meint zu sehen) einfach mal locker angesprochen worden und hat souverän reagiert und die eigene Unschuld damit – nach damaliger Vorstellung – noch bewahrt.
- In der Szene „Abend“ zeigt sich Gretchen dann aber doch beeindruckt von der Begegnung und der Person des Faust.
- Nach einem zwischenzeitlichen Eindringen von Faust und Mephisto wird ihr aber doch etwas schwül und sie wäre froh, wenn die Mutter bald nach Hause käm. Gretchen ahnt, dass ihr hier auch Gefahr droht.
- Allerdings schränkt sie das dann gleich wieder ein, indem sie sich als „ein töricht furchtsam Weib“ bezeichnet.
- Und während sie sich auszieht (inwieweit das etwas zu bedeuten hat bzw. mit dem König in Thule etwas zu tun hat, lassen wir mal offen), singt sie dann das Balladenlied.
- Ganz offensichtlich steht sie auch auf Treue, wünscht sie sich in ihrem Alter wahrscheinlich.
- Auch wird deutlich, in welchem Ausmaß sich dieses einfache Mädchen, das vor allem durch familiäre Häuslichkeit bestimmt wird, sich ein intensives Leben wünscht, durchaus mit der Perspektive auch des Abschlusses eines dann erfüllten Lebens.
- Und als Gretchen dann das Kästchen nach dem Singen des Liedes entdeckt, ist sie nicht mehr nur hochgestimmt, sondern erkennt, „Am Golde hängt / Doch alles. Ach wir Armen!“
- Ausblick: Aber sie ist bereit, sich auf das Abenteuer ihres Lebens einzulassen, durchschaut Mephisto und stellt Faust kritische Fragen im Religionsgespräch.
- Am Ende geht sie nach irdischen Maßstäben unter – nach denen des Herrn ist sie “gerettet”.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
- Goethe „Faust“ – Infos, Tipps und Materialien
https://textaussage.de/goethe-faust-themenseite
— - Schnellkurs Szenenanalyse
https://textaussage.de/schnellkurs-szenenanalyse
— - Youtube Playlist: „Faust“
https://www.youtube.de/playlist?list=PLNeMBo_UQLv1x9XbBOwr6dC8U_vx3ELkb
— - Youtube Playlist zum Thema „Szenenanalyse“
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https://www.youtube.de/playlist?list=PLNeMBo_UQLv3JwbEhBvxNFd_BBZpwVCM0
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- Weitere Themen des Deutschunterrichts
https://textaussage.de/weitere-infos