Worum es hier geht:
Wir wollen in einer literarischen Erörterung klären, ob und inwieweit Gretchen ein Opfer Fausts in Goethes Theaterstück ist.
- Grundsätzlich scheint die Sache erst mal klar zu sein. Bei der ersten Begegnung mit Faust ist Gretchen noch eine ziemlich selbstbewusste junge Frau, am Ende des Dramas befindet sie sich halb wahnsinnig im Kerker, weil sie das uneheliche Kind, das Faust mit ihr gezeugt hat, umgebracht hat.
- Außerdem leidet sie darunter, dass ihre Beziehung zur Faust zum Tod ihrer Mutter und ihres Bruders geführt hat. Damit hat man eigentlich schon eine gewaltige Opfer-Situation.
- Die Frage ist nun, inwieweit Gretchen verantwortlich ist für diese negative Entwicklung und letztlich zu einem naiven Opfer wird . Dabei ist es sicherlich am besten, wenn man die Stationen ihrer Beziehung zu Faust im Einzelnen prüft:
- Bei der ersten Begegnung wird sie von Faust, der noch unter dem Eindruck der Hexenküche steht und so ziemlich in jeder Frau Helena, die schönste Frau der Antike, zu sehen glaubt, gefragt, ob er sie begleiten darf. Das ist für damalige Verhältnisse eine ziemlich unverfroren Anmache, die auch auf souveräne Weise zurückgewiesen wird:
„Faust: Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?
Margarete: Bin weder Fräulein, weder schön, / Kann ungeleitet nach Hause gehn.“ - Fausts Reaktion darauf zeigt dann auch, dass er ziemlich beeindruckt ist von dieser jungen Frau, was dann allerdings dazu führt, dass er Mephisto, der ihm zu Diensten sein muss, den klaren Auftrag gibt, sie ihm zu „schaffen“, was wohl soviel heißt wie „verschaffen“. D.h.: Faust will sie in seinen Besitz bringen.
- Tatsächlich gelingt es Mephisto, Faust und Gretchen zusammenzubringen, was dann in den Szenen „Garten“ und „Ein Gartenhäuschen“ zu wechselseitigen Liebeserklärungen führt.
- In der Szene „Gretchens Stube“ wird dann aber die Zerrissenheit Gretchens deutlich, die auf der einen Seite zur völligen Hingabe bereit ist, auf der anderen Seite aber auch die damit verbundenen Gefahren sieht
- In der Szene „Marthens Garten“ zeigt sich, dass Gretchen keineswegs naiv ist, sondern wissen möchte, woran sie bei Faust ist. Dies führt zu dem berühmten Religionsgespräch, in dem deutlich wird, dass Gretchen Fausts problematische Bindung an Mephisto durchschaut.
- Allerdings biegt sie spätestens an dieser Stelle falsch ab, weil sie nämlich einer Liebesnacht mit Faust zustimmt. Dass ihre Mutter dabei umkommt, dafür kann sie nichts, denn das ist eine teuflische Aktion Mephistos, der ihr statt des Schlaftrunkswohl Gift gegeben hat.
- Nach der Liebesnacht wird zum einen deutlich, dass Gretchen ein schlechtes Gewissen hat, außerdem lässt Faust sich von Mephisto in die Walpurgisnacht entführen, kümmert sich also nicht weiter um die Geliebte.
- Immerhin zeigt Faust zumindest im nachhinein in der Szene „Trüber Tag Feld“ Mitgefühl mit Gretchen, verflucht sogar Mephisto und fordert ihn auf, Gretchen aus dem Kerker zu retten.
- In der letzten Szene wird dann deutlich, wie sehr ihr Schicksal Gretchen getroffen hat, sie will aber nicht mit Faust fliehen, sondern trennt sich deutlich von ihm und wird am Ende ja auch durch die Stimme von oben als „gerettet“ bezeichnet.
- Insgesamt wird damit deutlich, dass Gretchen genauso wie Faust (bei dem sich das aber erst am Ende des zweiten Teils zeigt) offensichtlich trotz des dunklen Dranges, von dem der Herr im „Prolog im Himmel“ gesprochen hat, ein guter Mensch ist und auf dem rechten Wege bleibt.
- Allerdings hat sie ein deutlich schlimmeres Schicksal als Faust zu durchleiden.
- Gretchen ist sicherlich in zweifacher Hinsicht mitschuldig, weil sie zum einen gegen die damaligen Konventionen einer Liebesnacht mit Faust zustimmt und später dann das uneheliche Kind umbringt. Zu ihrer Entlastung muss allerdings klar hinzugefügt werden, dass sie letztlich in der entscheidenden Phase ihres Lebens von Faust alleingelassen wird. Noch wichtiger sind natürlich die herrschenden Verhältnisse, die einer jungen Mutter mit einem unehelichen Kind ein normales Leben so gut wie gar nicht möglich gemacht haben.
- Was die Ausgangsfrage angeht, muss deutlich gesagt werden, dass Gretchen sicherlich ein einfaches Mädchen ist, dafür aber einen ziemlich klaren Verstand zeigt und auch Verantwortung, allerdings an einer Stelle letztlich ein Opfer ihrer Liebe wird.