Anmerkungen zu Hemingways Kurzgeschichte „Ein Tag Warten“ – die Züge einer Anekdote hat (Mat2769)

Hemingway, „Ein Tag Warten“ – Kurzgeschichte oder Anekdote?

Hemingways Kurzgeschichte „Ein Tag Warten“

  • ist ein Sonderfall,
  • weil sie eigentlich ein spezielles, für einen Jungen sehr bewegendes, ja regelrecht verstörendes Erlebnis eher anekdotisch erzählt.
  • Letztlich handelt es sich um ein Missverständnis, das allerdings zumindest für einen Tag ziemlich schlimme Folgen hat.

Wir geben hier zunächst einen Überblick über die Erzählschritte, so dass auch die wichtigen Textstellen leicht zu finden sind.

  • ES1:
  • Sohn kommt ins Schlafzimmer der Eltern und sieht krank aus.
  • Kurzes Gespräch über seinen Zustand
  • ES2:
  • Vater zieht sich an, geht zum Jungen, der hat Fieber.
  • Er sagt aber, er sei in Ordnung
  • ES3:
  • Arzt kommt,
  • misst die Temperatur,
  • nennt als Wert 102,
  • dazu gibt er Medikamente,
  • sagt: „es wäre nicht weiter besorgniserregend, falls die Temperatur nicht auf hundertvier steige.“
  • ES4:
  • Vater geht wieder zum Jungen,
  • notiert die Temperatur und die Zeiten für die Medikamente.
  • Dann liest er ihm was vor,
  • „aber ich sah, dass er nicht bei der Sache war.“
  • Auf die Frage, wie er sich fühlt:
  • „‘Genau wie vorher, bis jetzt‘, sagte er.“
  • ES5:
  • Der Vater liest dann für sich und wartet bis zum nächsten Medikamententermin:
  • „Normalerweise hätte er einschlafen müssen, aber als ich aufblickte,
  • blickte er das Fußende des Bettes an und hatte einen seltsamen Ausdruck im Gesicht.“
  • Dann entlässt der Junge den Vater aus seinen vermeintlichen Pflichten.
  • Der reagiert als Ich-Erzähler darauf mit: „Ich dachte, dass er vielleicht ein bisschen wirr sei,
  • und nachdem ich ihm um elf das verschriebene Pulver gegeben hatte,
  • ging ich eine Weile aus.
  • ES6:
  • Der Vater vertreibt sich dann die Zeit mit dem Jagen und Schießen von Wachteln.
  • Er macht sich dann auf den Heimweg,
  • „vergnügt, weil ich so dicht von Zuhaus ein Wachtelvolk aufgetrieben hatte“.
  • ES7:
  • Zu Hause hört er, „dass der Junge keinem erlaubt habe, in sein Zimmer zu kommen
  • […] Du darfst das nicht bekommen, was ich habe.“
  • Der Junge hat immer noch Fieber, jetzt auch mit Fieberflecken
  • und: „Er starrte immer noch, wie er vorhergestarrt hatte, auf das Fußende des Bettes.“

  • Dann misst der Vater noch mal die Temperatur – „ungefähr hundert […] Es waren hundertundzwei und vier Zehntel.“
  • Der Junge betont dann auch noch mal die 102, die der Doktor gemessen hat.
  • Der Vater kommentiert das dann mit: „Deine Temperatur ist ganz in Ordnung […] kein Grund sich aufzuregen.“
  • Der Sohn daraufhin: „Ich rege mich nicht auf […] aber ich muss immer denken.“
  • Der Vater will ihn davon ablenken, er solle das doch nicht so tragisch nehmen.
  • Der Sohn bleibt bei seiner Haltung
  • und der Vater merkt: „Er nahm sich offensichtlich wegen irgend etwas schrecklich zusammen.“
  • ES8:
  • Der Vater liest dann wieder aus dem Buch vor,
  • was den Sohn aber wieder nicht interessiert.
  • Der fragt plötzlich: „Wie lange dauert es noch ungefähr, bis ich sterbe?“
  • Als der Vater dann noch mal darauf hinweist, dass man mit 102 nicht stirbt,
  • macht der Junge endlich klar, was ihn bewegt.
  • In Frankreich hat man ihm gesagt, „dass man mit vierundvierzig Grad nicht leben kann. Ich habe hundertzwei.“
  • Da endlich begreift der Vater:
    „Er hatte den ganzen Tag auf seinen Tod gewartet, die ganze Zeit über, seit neun Uhr morgens.“
  • Er erklärt ihm dann
  • den Unterschied zwischen der amerikanischen Fiebermessung in Fahrenheit
  • und der europäischen Messung in Grad.
  • Dort wären die 102 Grad Fahrenheit 38,9 Grad.
  • Zum Vergleich zieht er amerikanische Meilen und deutsche Kilometer heran.
  • ES9:
  • Am Ende stellt der Ich-Erzähler fest:
  • „Die Starre schwang langsam aus seinem […] Blick;
  • auch seine Verkrampftheit ließ schließlich nach
  • und war am nächsten Tag fast ganz weg,
  • und er weinte wegen Kleinigkeiten los, die unwichtig waren.“

Fragen zum Text:

Beantworte die folgenden Fragen mit Hilfe von Textstellen (Zitaten)

  • F1: Wieso geht es in der Geschichte im wesentlichen um ein Missverständnis?
  • Der Doktor nennt nach dem Fiebermessen eine Temperatur von 102, ohne zu sagen, um welche Messeinheit es geht (In den USA: Fahrenheit, bei uns Grad). (ES3)
  • Der Junge weiß aus einem Aufenthalt in Europa (Frankreich), dass kein Mensch eine Temperatur von 44 Grad oder darüber nicht überleben kann. (ES7)
  • F2: An welchen Stellen hätte sich das Missverständnis früher auflösen lassen?
  • Bereits in dem Moment, in dem der Arzt einen Wert von 102 nennt. Der Junge hätte da schon sagen können: „Dann muss ich ja sterben.“ Und alles wäre geklärt gewesen.
  • Oder hinterher, als der Vater die Temperatur aufschreibt. Da wäre es vielleicht für den Jungen leichter gewesen, den Satz auszusprechen: „Muss ich jetzt sterben?“
  • F3: Was hat der Titel mit der Handlung zu tun?
  • Er macht deutlich, dass es hier um eine schreckliche innere Handlung geht, die einen ganzen Tag einen jungen Menschen in Todesangst erhält.
  • F4: Was zeigt die Geschichte? (Aussage bzw. Aussagen der Geschichte)
  • Die Geschichte zeigt vor allem, dass es leicht Missverständnisse geben kann,
  • dass es dabei auch solche gibt, die so massiv sind,
  • dass der Betroffene sich mehr auf sein angenommenes schreckliches Ende konzentriert
  • als auf die normalerweise leicht zu stellende Nachfrage.
  • Die Geschichte zeigt aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung der Situation
  • durch den Vater, der weiß, was das für eine Maßeinheit ist
  • und den Sohn, der sich anscheinend mit amerikanischen Fieberthermometern nicht auskennt.
  • F5. Inwieweit sind die Kennzeichen einer Kurzgeschichte erfüllt?
  • Auf jeden Fall gibt es einen direkten Einstieg – bei dem man sich erst mal klarmachen muss, um welche Personen es geht und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.
  • Es handelt sich um einen – relativ kurzen – Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen, der für den Betroffenen aber sehr lang und quälend ist.
  • Was allerdings völlig fehlt, ist das eher Grundsätzliche, das auf einen möglichen Wendepunkt zuläuft.
  • Das Problem ist dermaßen banal, dass daraus auch kein großer Erkenntnisgewinn für die Zukunft zu erwarten ist.
  • Bezeichnend ist, dass es hier kein offenes Ende gibt – wie man es bei „normalen“ Kurzgeschichten mehr oder weniger hat.
  • F6: Inwieweit zeigt die Geschichte Züge einer Anekdote und was unterscheidet sie davon?
  • Wenn man sich anschaut, was zum Beispiel Wikipedia zur Anekdote sagt:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Anekdote
  • geht es um die folgenden Elemente:
  • „kurze,“
    nicht so ganz gegeben, hier dominiert schon der Kurzgeschichtencharakter.
  • „oft geistreiche“
    auch eher weniger gegeben, da es sich um ein einfaches Missverständnis handelt. Dass Hemingway daraus aber so etwas macht, ist sicher „geistreich“.
  • „Schilderung“
    Hier in besonderem Maße gegeben, weil es sich eben um eine Kurzgeschichte handelt.
  • „einer bemerkenswerten“
    Das kann man sicher sagen – der Junge wird das nicht so schnell vergessen – und die Leser können sich überlegen, was sie an Missverständnissen vermeiden können.
  • „oder charakteristischen Begebenheit“
    Charakteristisch ist das höchstens für sprachliche Missverständnisse.
  • „meist im Leben einer Person“.
    Person ist gegeben.
  • „scharfe Charakterisierung“
    Beim Sohn wird deutlich, wie viele Gedanken er sich macht, wie er sie lange, viel zu lange für sich behält und wie mutig er die Sache fast komplett allein durchsteht.
    Beim Vater ist eine gewisse Oberflächlichkeit zu erkennen – und auch ein wenig gefühlvoller Umgang mit dem Leben – die Wachteln interessieren ihn nur gewissermaßen als Pfanneninhalt.
  • „Reduktion auf das Wesentliche“
    Das kann man sagen, sieht man einmal von der Hemingwayschen Leidenschaft für das Jagen ab.
  • „Pointe“
    Die Pointe steht nicht am Schluss, ist aber vorhanden.
  • Insgesamt ist der Inhalt eher „anekdotisch“, also ein besonderer Einzelfall ohne große Bedeutung für andere.
  • Die Gestaltung ist aber durchaus im Stil einer Kurzgeschichte.

Anregung:

Die Geschichte lebt ja in besonderer Weise davon, dass der Vater und auch der Leser beim ersten Lesedurchgang am Ende klüger ist als vorher.

Das macht deutlich, wie wichtig eine „induktive“ Interpretation ist, bei der man Schritt für Schritt dem Erzähler folgt. Dabei baut sich nämlich ein doppeltes Verständnis auf – ein fortlaufendes mit all seinen Fehlern und Irrtümern – und am Ende ein endgültiges, das durch den Abschluss der Handlung hergestellt wird.

Anregung: Die Kurzgeschichte zu einer Anekdote umwandeln.

  • Interkulturelles Lernen ist wirklich wichtig.
  • Das zeigt das Erlebnis eines viel reisenden Vaters, der mit seinem Sohn kurz in die USA fliegt, weil der dort auch endlich mal Land und Leute sehen möchte.
  • Nun zeigt der arme Junge am zweiten Tag Züge einer Erkältung, die auch eine Grippe sein kann.
  • Der herbeigerufene Arzt beruhigt nach dem Messen des Fiebers. Von seinem Thermometer liest einen Wert von 102 ab und das sei erst mal kein Problem. Dazu gibt es Medikamente.
  • Der Junge ist anschließend ziemlich verstört, will nur noch nachdenken, niemanden sehen.
  • Der Vater wundert sich über die zunehmende Verzweiflung seines Sohnes.
  • Schließlich die für ihn überraschende Erklärung: Schon 44 Grad könne kein Mensch überleben, das wisse er von seinen Kumpels aus Frankreich.
  • Nun kann der Vater ihn beruhigen und ihm erklären, dass die gemessenen 102 Fahrenheit knapp 39 Grad auf europäischen Thermometern entsprächen.
  • Es dauert einige Zeit, bis der Junge wirklich aufatmen kann, immerhin hatte er sich einen ganzen Tag auf das Sterben vorbereitet.
  • Und das alles nur, weil es auch beim Fiebermessen verschiedene Kulturen gibt.

Anregung:

Man könnte diese „Kurzgeschichte“ mit einer anderen vergleichen. Da geht es auch um das Verhältnis von Vater und Sohn – aber es geht nicht um „anekdotische“ Erfahrungen, sondern wohl eher um grundlegende.

https://www.schnell-durchblicken2.de/kg-frerich-schule2-kommunikation

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