Klausur: Gedichtvergleich zwischen Lotz, „Hart stoßen sich die Wände in den Straßen“ und Eichendorff, „Sehnsucht“ (Mat779-vle)

Klausur: Gedichtvergleich zwischen Lotz, „Hart stoßen sich die Wände in den Straßen“ und Eichendorff, „Sehnsucht“

Aufgabenstellung

1. Analysieren Sie das Gedicht „Hart stoßen sich die Wände in den Straßen“ von Lotz (1890-1914), indem Sie

a) das Thema des Gedichts nennen und den Aufbau des Gedichts beschreiben,
b) den Inhalt der einzelnen Strophen erläutern (Textbelege!),
c) daraus die Intentionalität des Gedichts ableiten (Signalbündelung) und
d) wichtige sprachliche Mittel vorstellen und in ihrer Funktion erläutern.
Berücksichtigen Sie bei Inhalt und Sprache, dass ein expressionistisches Gedicht innere Gefühle auf besondere/extreme Weise ausdrückt.
2. Analysieren Sie in gleicher Weise das Gedicht „Sehnsucht“ von Eichendorff (1788-1857) aus der Epoche der Romantik. Vergleichen Sie anschließend, wie in beiden Gedichten Sehnsucht durch das Lyrische Ich ausgedrückt wird. Aus Zeitgründen kann bei dem zweiten Gedicht auf die äußere Form des Gedichts verzichtet werden.

Texte der beiden Gedichte

Ernst Wilhelm Lotz
 
Hart stoßen sich die Wände in den Straßen (1913)

01 Hart stoßen sich die Wände in den Straßen,

02 Vom Licht gezerrt, das auf das Pflaster keucht,
03 Und Kaffeehäuser schweben im Geleucht
04 Der Scheiben, hoch gefüllt mit wiehernden Grimassen.
05 Wir sind nach Süden krank, nach Fernen, Wind,
06 Nach Wäldern, fremd von ungekühlten Lüsten,
07 Und Wüstengürteln , die voll Sommer sind,
08 Nach weißen Meeren, brodelnd an besonnte Küsten.
09 Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren,
10 Es müßten Pantherinnen sein, gefährlich zart,
11 In einem wild gekochten Fieberland geboren.
12 Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art.
13 Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.
14 Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.
15 Wir leuchten leise. – Doch wir könnten brennen.
16 Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt .
Joseph von Eichendorff
 
Sehnsucht (1834)
01 Es schienen so golden die Sterne,
02 Am Fenster ich einsam stand
03 Und hörte aus weiter Ferne
04 Ein Posthorn im stillen Land.
05 Das Herz mir im Leib entbrennte,
06 Da hab ich mir heimlich gedacht:
07 Ach, wer da mitreisen könnte
08 In der prächtigen Sommernacht!
09 Zwei junge Gesellen gingen
10 Vorüber am Bergeshang,
11 Ich hörte im Wandern sie singen
12 Die stille Gegend entlang:
13 Von schwindelnden Felsenschlüften ,
14 Wo die Wälder rauschen so sacht,
15 Von Quellen, die von den Klüften
16 Sich stürzen in die Waldesnacht.

Hinweise zur Lösung der Aufgaben

  • Thema des Gedichts: extreme Sehnsucht nach Ferne und intensivem Leben
  • Form des Gedichts: 4 Strophen, 5- bis 6hebiger Jambus, STROPHE 1: umarmender Reim, STROPHE2-4: Kreuzreim
  • Erläuterung des  Inhalts der einzelnen Strophen – mit Textbelegen
    • STROPHE1:
      • – Negative Sicht der städtischen Umgebung („Hart“, „stoßen sich“, 01)
      • – Ansatzweise Betonung von Härte, Aggression, Gewalt („gezerrt“, 02)
      • – Licht wird als Problem empfunden, vielleicht wegen Rekame-Überflutung
      • – Menschen in Kaffeehäusern werden auch nur „mit wiehernden Grimassen“ (04) wahrgenommen und damit zumindest ansatzweise der Menschlichkeit beraubt
    • STROPHE2:
      • Kollektive Selbstpräsentation des Ich („Wir“, 05) als „krank“ nach Ferne
      • mit herausfordernder Natur („Wind“, 05; „Wäldern, fremd vor ungekühlten Lüsten“, 06)
      • Hervorhebung des Hellen, Sonnigen, Sommerhaften im Zielgebiet der Sehnsucht
    • STROPHE3:
      • Erweiterung der Sehnsucht auf den menschlichen Bereichj
      • Aber beschränkt – wohl aus männlicher Sicht – auf Frauen, die auf das Körperliche reduziert werden. Allerdings wird für sie das Bild der „Pantherinnen“ (10) verwendet – einschließlich einer Spannweite der Verhaltensweisen zwischen „gefährlich“ und „zart“ (10).
      • Genauere Charakterisierung des „wild gekochten“ Zielgebietes, das außerdem über „Fieberland“ (11) mit dem Wortfeld „krank“ und heiß verbunden wird.
      • Überleitung zur letzten Strophe mit der Hervorhebung des Unbekannten
    • STROPHE4:
      • – Konzentration nur noch auf Varianten des „Wir“ (13-16)
      • – Noch einmal Aufnahme des Schlussgedankens von STROPHE3
      • – Hervorhebung der eigenen Jugendlichkeit und der extremen Sehnsucht nach der Welt („fiebern noch nach Welt“, 14), damit erläuternde Verschiebung der Krankheitshinweise der früheren Versgruppen in Richtung intensiver Gefühle im Hinblick auf ein Ziel
      • – Synästhesie-Hinweis auf die aktuelle Situation („leuchten leise“, 15) und das darin wohnende Potenzial („Doch wir könnten brennen.“ 15)
      • – Nennung der Voraussetzung dafür „Wir suchen immer Wind.“ (16)
      • … leitet aus der Erläuterung des Inhalts die Intentionalität ab (Signalbündelung)
  • Intentionalität: Das Gedicht zeigt …
    • – Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation und Umgebung
    • – Sehnsucht nach Ferne
    • – Sehnsucht nach Frauen, nach dem Abenteuer der Liebe
    • – Sehnsucht nach Unbekanntem
    • – Eine Art Wartestand
  • Vorstellung wichtiger sprachlicher Mittel und Erläuterung ihrer Funktion
    • – Personifizierung der Elemente der städtischen Umgebung in konfrontativer, ja aggressiver Weise („hart stoßen sich“, 01; „Vom Licht gezerrt“, 02; „das auf die Pflaster keucht“, 02; Verbindung der Gäste der Kaffeehäuser „mit wiehernden Grimassen“ (04). Hier zugleich Übergang vom menschlichen in den tierischen Bereich.
    • – Aufzählung in 05/06; Verwendung des Wortes „krank“ für einen inneren Erregungszustand; ausgiebige Nutzung des Wortfeldes „warm“.
    • – Pars pro toto-Einbeziehung der Frauen, die nur auf ihre Körperlichkeit reduziert werden
    • – Raubtiermetapher für die Frauen („Pantherinnen“, 10)
    • – Verschmelzung des Gegensatzes von „gefährlich“ und „zart“ (10)
    • – Neologismus „Fieberland“ (11), verstärkt durch Partizipattribut „gekocht“ (11) – Hyperbel
    • – Noch stärkerer Neologismus: „versehnt“ (12), der Sehnsucht mit der Vorsilbe „ver“ verbindet, was in diesem Zusammenhang an „verbrennen“ erinnert
    • – Vierfache Anapher in Strophe 4 („Wir“), die die anschließend genannten Desiderate verstärkt
    • – Gegensatz von „leuchten leise“, was zugleich ein Beispiel für Synästhesie ist.
    • – Hervorhebung von „Wind“ als zentraler Voraussetzung für die Umsetzung bzw. Realisierung der Sehnsucht
    • – Intensive Nutzung des Wortfeldes „brennen“ am Schluss (15/16)
  • Interpretation des Zusammenwirken vons Inhalt, Form und Sprache – Deutung des Gedichts
    • – als Absage an die aktuelle heimatliche Großstadtwelt
    • – als Ausdruck einer relativ unpräzisen Sehnsucht nach Ferne und Liebe
    • – zumindest ansatzweise auch als Zeichen für Selbstkritik
    • – vor allem aber als Ausdruck der Hoffnung auf eine Art „wind of change“.

Interpretation des zweiten Gedichtes und Vergleich

aufgabenbezogene Überleitung unter Nennung von Autor, Titel und Entstehungszeit:
Wie beim Gedicht von Lotz geht es auch in dem romantischen Gedicht „Sehnsucht“ von Eichendorff aus dem Jahr 1834 um Sehnsucht, wie der Titel bereits ausdrückt. Inwieweit es auch Unterschiede gibt, wird im Folgenden untersucht.     /3

benennt das Thema des Gedichts: Eine Sehnsucht, die sich mit den Vorstellungen des Gewünschten begnügt.    /3
erläutert den Inhalt der einzelnen Strophen – mit Textbelegen
1. Strophe:
  • typische Situation der Romantik: Nacht und Einsamkeit;
  • dann der Impuls aus der Ferne, das Posthorn, das von der Tonlage her einen deutlichen Kontrast zum „stillen Land“ (04) hervorruft.
  • Wichtig die Reaktion des Lyrischen Ichs, bei der zum einen das „Herz“ (05) als zentraler Ort der Gefühle eine entscheidende Rolle spielt, zum anderen das „entbrennte“, das die Intensität der Gefühle bildlich darstellt.
  • Interessant ist, dass das Lyrische Ich seinen Wunsch anschließend nur „heimlich“ vorträgt, statt seine Sachen zu packen.

2. Strophe:

  • –    Stattdessen konzentriert sich das Lyrische Ich auf passive Wahrnehmung dessen, was es doch selbst angeblich gerne machen würde: das „Wandern“ von zwei jungen Männern und ihr Singen.
  • –    Ebenfalls werden die verlockenden Naturelemente nur im Lied sichtbar – interessant ist hier, dass das Lyrische Ich nicht mal eigene Vorstellungen präsentiert.

3. Strophe:

  • -In gleicher Weise geht es weiter: Wenn dann von „Marmorbildern“, von „Gärten … überm Gestein“, von „dämmernden Lauben“, vom „verwildern“,  von „Palästen im Mondenschein“ (17-20) die Rede ist, so sind das alles zentrale Motive der Romantik – aber sie gehören eigentlich nicht dem Lyrischen Ich, es gibt sie nur wieder.
  • -Lediglich die letzten vier Zeilen könnten den Übergang fremder Liedgedanken in eigene Vorstellungen ausdrücken: Dass „Mädchen am Fenster lauschen“ (21) passt gut zur Ausgangssituation des Lyrischen Ichs. Vielleicht hofft es so, die eigene Einsamkeit in Zweisamkeit aufheben zu können.
  • -Wenn es dann am Schluss heißt, dass „die Brunnen verschlafen rauschen“ (23), so ist das fast eine ungewollte Selbstironisierung, denn dieses Lyrische Ich träumt nur vor sich hin, statt all das zu tun und selbst zu erleben, wovon die Rede ist und was die beiden Wanderer „am Bergeshang“ (10) zumindest noch vor sich haben könnten.
  • Dazu passt auch, dass das Lyrische Ich am Ende von einer „prächtigen Sommernacht“ (24) spricht, aber es ist eben eine, die „Am Fenster“ stattfindet und nicht im eigenen Leben.
leitet aus der Erläuterung des Inhalts die Intentionalität ab (Signalbündelung)

Das Gedicht zeigt …

  • •    Die Einsamkeit eines Menschen, der sich zwar über Impulse des Aufbruchs in romantische Welten freut,
  • •    aber erkennbar nicht seinem Wunsch folgt, dabei mitzumachen,
  • •    sondern sich damit begnügt, am Ausdruck fremden Lebens teilzuhaben.
  • •    dass lediglich im Bereich der Parallelsituation der ebenfalls am Fenster lauschenden Mädchen tiefere Wünsche sichtbar werden, die aber nicht allein mit romantischen Phänomenen erfüllt werden können.
  • •    dass das Lyrische Ich mit der passiven Aufnahme von Romantik möglicherweise die Chance verpasst, nicht nur selbst Romantik zu erleben, sondern auch seiner Einsamkeit zu entfliehen.
stellt wichtige sprachliche Mittel vor und erläutert ihre Funktion
  • •    Gegensatz von Posthorn und dem „stillen Land“ (04), später erneut wieder aufgenommen in Zeile (11,12,22)
  • •    Das Bild des Brennens für die Intensität der eigenen Wünsche (05)
  • •    Die Schlüsselkombination von „heimlich“ und „gedacht“ (06) als Ausgangspunkt einer wahrscheinlichen Passivitätsmisere
  • •    Das abenteuerliche Kontrastprogramm in 13-16, das dem Verhalten des Lyrischen Ichs widerspricht
  • •    Reihung romantischer Motive in 17-23
  • •    Parallelsituation von 21 und 02
  • •    Kontrast zwischen „verschlafen rauschen“ (23) und „gingen“ (09)
  • •    Personifizierung der Musik in 22 – Kontrast zu „verschlafen“ (23)    /5
Vergleich, wie in beiden Gedichten Sehnsucht ausgedrückt wird
  • •    Gemeinsames Thema: Sehnsucht nach Ferne und intensivem Leben
  • •    Unterschied gleich am Anfang: bei Lotz eine extrem als negativ empfundene Ausgangssituation
  • •    Bei Eichendorff nur mögliche negative Situation, die aber voll zum romantischen Konzept passt und in vielen Fällen als positiv gegenüber dem Treiben der großen Welt empfunden wird
  • •    In beiden Gedichten erst mal ähnliche Ziele in der Natur, bei Lotz aber extremer, radikaler („fremd vor ungekühlten Lüsten“) als bei Eichendorff, dessen Gedicht allenfalls typisch romantische Kulissenelemente aufführt
  • •    Vor allem unterscheiden sich beide Gedichte im Bereich der Sexualität, die bei Lotz voll ausgelebt werden soll, während sie sich bei Eichendorff allenfalls implizit, angedeutet findet
  • •    Bei Lotz gibt es zudem eine klare Selbstreflexion, während das Lyrische Ich im Eichendorff-Gedicht ganz den epochentypischen Bildern verfallen bleibt
  • •    Insgesamt findet sich bei Lotz eine für den Expressionismus typische und sehr extreme Aufbruchsbereitschaft, der nur noch der Impuls zur Umsetzung fehlt, während bei Eichendorffs Gedicht nicht mal zwei Impulse reichen, um sich auf den Weg ins vermeintliche Glück der Ferne zu machen.