Klausur: Lars Krüsand, Goethes „Faust“ – warum Gretchentragödie und ein bisschen Gelehrtenqual nicht reichen (Mat2110-fgf)

Worum es hier geht:

Goethes „Faust“ war immer schon eine anspruchsvolle und damit auch anstrengende Lektüre. Aktuell scheint man in der deutschen Bildungslandschaft immer mehr den leichtesten aller Wege zu gehen – nämlich sich der Herausforderung gar nicht mehr zu stellen.

Wir schlagen etwas anderes vor: Es gibt doch Übersetzungen – warum nicht von Goethe-Deutsch in heutiges Deutsch – natürlich nicht 1:1. Von Shakespeare haben wir mal ein Buch in der Hand gehabt, in dem sein Werk im besten Sinne des Wortes zumindest minimal „tradiert“ wurde – nämlich in Novellenform. Das war zumindest eine Möglichkeit, sich der Substanz dieses schriftstellerischen Werkes zu nähern.

Bei Goethes „Faust“ ist es noch schlimmer: Der erste Teil wurde noch vor kurzem fast überall in Deutschland gelesen – aber er enthält dummerweise nur den ersten Teil von Goethes „Wahrheit“ – eigentlich noch viel weniger.

Deshalb haben wir Lars Krüsand gebeten, das Problem und eine mögliche Lösung genauer zu beschreiben.

Übrigens:
Wer vor so viel Stoff zurückschreckt, dem sei das folgende Video empfohlen:
https://youtu.be/JgCcyTA5pMU?si=1yOaPQib-pju0ZDL

Nun zu dem Text, den man als Klausur stellen kann, wenn man zumindest das Video gesehen hat 😉

Hier zunächst ein Screenshot und darunter die PDF-Datei

Mat2110-kgf Klausur ganzer Faust muss sein Lars Krüsand

Mögliche Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den angehängten Text, indem Sie
    1. in einem Einleitungssatz auch das Thema benennen
    2. die Position des Textes zusammenfassend herausarbeiten – mit wichtigen Zitaten
    3. zeigen, wie diese Position mit sprachlichen und rhetorischen Mitteln unterstützt wird.
  2. Nehmen Sie Stellung zur These, die Lektüre nur von Faust I sei unvollkommen und formulieren Sie am Ende ein kurzes Statement für die Fachkonferenz Deutsch, ob und wie Goethes Drama im Deutschunterricht der Oberstufe verpflichtend behandelt werden sollte.

Lars Krüsand

Warum wir mit „Faust I“ allein nicht weit kommen

Ein Zwischenruf zur Frage der Schulpflichtlektüre

Goethe hat glücklicherweise nicht geahnt, wie sein Lebenswerk im Schulunterricht heute aufgeteilt, verstümmelt – oder besser gesagt: auf halbem Weg stehen gelassen wird. Wer sich Jahrzehnte lang mit einer Stoffidee auseinandersetzt, der denkt in Dimensionen, die sich nicht in einer Handvoll Szenen erschöpfen lassen. Doch genau das passiert: „Faust I“ wird – kaum noch, aber immerhin noch – gelesen, „Faust II“ kaum bis gar nicht. Der Prolog im Himmel wird vielleicht noch mitgenommen – aber nur, um dann ein schulisches Gretchen-Fieber zu entfachen, das mit Goethes Gesamtkonstruktion nur wenig zu tun hat.

Denn machen wir uns nichts vor: Im heutigen Unterricht steht weniger die Gelehrtentragödie im Zentrum – sie wird gern als schwer verständlich – und vor allem ohne Lösung – zur Seite gelegt –, sondern das sogenannte „Gretchendrama“. Dabei ist genau das die eigentliche Reduktion: Wir behandeln Goethes „Faust“ wie ein moralisches Sozialdrama, das zufällig in Versen geschrieben ist. Die Fragen nach Erkenntnis, Hybris, Fortschritt, Verzweiflung, aber auch Rettung werden oft nur obeflächlich und ohne schmerzlichen Bezug zu uns angerissen – und dann sanft beiseitegeschoben. Übrig bleibt: eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein Kerker.

Natürlich lässt sich Gretchens Schicksal auch heute noch diskutieren – aber ob es wirklich Jugendliche existenziell berührt, wenn eine außereheliche Beziehung zu gesellschaftlicher Ächtung und Kindstod führt, darf bezweifelt werden. In Zeiten von Schwangerschaftsabbrüchen, Patchworkfamilien und TikTok-Beichten ist das Gretchen-Problem nur noch bedingt ein Schock. Um im Bild zu bleiben: Muss man gleich das Kind mit dem Bade ausschütten – oder könnte man das Werk nicht neu präsentieren?

Denn entscheidend ist doch: „Faust“ ist kein Fragment, sondern ein Langstreckenlauf. Und wer nur den Startschuss hört, wird das Ziel nie begreifen. Der eigentliche Rahmen – die Frage nach göttlicher Prüfung, menschlichem Irren und schließlich der Rettung durch das Doppelrinzip Streben und Liebe – liegt nicht zwischen Studierzimmer und Kerkerszene, sondern zwischen Prolog im Himmel und Schluss des fünften Akts im zweiten Teil. Dort also, wo Mephisto leer ausgeht, obwohl Fausts Lebensbilanz aus Leichen, Schuld und Größenwahn besteht. Warum? Ein einziges Zitat aus Faust II enthält Stoff für stundenlanges Weiterdenken und -Recherchieren::

„Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen, / Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen. / Und hat an ihm die Liebe gar / Von oben teilgenommen, / Begegnet ihm die selige Schar / Mit herzlichem Willkommen.“

Kurz: Wer „Faust I“ isoliert liest, erhält ein Problemstück ohne Auflösung. Wer aber Goethes theatralische Architektur ernst nimmt, erkennt, dass der zweite Teil nicht die Kür ist, sondern das eigentliche Finale.

Vielleicht wird es Zeit, dass der Deutschunterricht auch wieder beginnt zu streben.

Sonst geht mit dem „Faust“ am Ende nicht nur der Stoff verloren – sondern auch das, was ihn eigentlich trägt: die Suche und die Hoffnung, dass am Ende doch noch etwas zählt.

entnommen: Durchblicke bis auf Widerruf – Online-Zeitschrift für Schule und Studium 5/2025

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