Lessing, „Erziehung des Menschengeschlechts“ als Hintergrund für „Nathan der Weise“ (Mat2397)

Worum es hier geht:

  • Vorgestellt wird eine Schrift, die Lessing etwa zur gleichen Zeit wie das Theaterstück „Nathan der Weise“ (1779) verfasst hat.
  • Wir klären kurz, worum es in der Schrift geht und was sie aussagt.
  • Dann klären wir, inwieweit sich dadurch zusätzliche Erkenntnis für das Verständnis des Dramas ergeben.

Der Quellentext ist z.B. hier zu finden:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 8, München 1970 ff., S. 489-511.
Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005267137

Basis-Infos
  • Wenn man das Theaterstück „Nathan der Weise richtig verstehen will, muss man natürlich zunächst wissen, dass es eigentlich ein Ausweichmanöver war.
  • Lessing war ja von seinem Landesherrn verboten worden, sich zu Fragen der Religion öffentlich zu äußern.
  • Also kam er auf den Gedanken, seine Grundideen in einem Theaterstück zu verbreiten.
  • Interessant ist nun, dass etwa zur gleichen Zeit (1780) von ihm eine Schrift erscheint mit dem Titel: „Die Erziehung des Menschengeschlechts.
  • Das passt natürlich voll in das Konzept der Aufklärung,. Die möchte ja, dass mit den Mitteln des Verstandes die Welt und natürlich auch die Menschen verbessert werden.
  • Begonnen worden ist die Schrift vor dem Fragmenten Streit (der 1777/8 seinen Höhepunkt erreichte.
Lessings Vorsichtsmaßnahmen bei dieser Schrift
  • 1778 war Lessing von seinem Herzog verboten worden, etwas zu Fragen der Religion zu publizieren.
  • Für die Vorsicht, mit der Lessing dieser Schrift zu Werke geht, spricht die Einleitung. Dort erklärt der Verfasser, dass es sich hier nur um eine Art Hypothese handelt, die er gerne revidieren will, wenn es entsprechende Einwände gibt.
  • Auch das Motto der Schrift geht in diese Richtung:
    „Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt.“
    Das heißt soviel wie: All dies iste aus den gleichen Gründen wahr, wie es falsch ist.“
Die Grundidee von Lessings Schrift
  • Lessing hatte als Aufklärer Probleme mit einer Offenbarungsreligion wie dem Christentum. Denn eine Offenbarung übersteigt im religiösen Sinne die Möglichkeiten der Vernunft.
  • Damit wird schon mal deutlich, wie weit man sich zur Zeit Lessings von den strengen Grundlagen wie dem Glaubensbekenntnis entfernt hatte. Denn natürlich gehörte Lessing einer evangelischen Kirche an.
  • Lessing übertrug nun den Entwicklungsgedanken der Aufklärung auf das Christentum.
  • Dabei lehnte er sich an das Entwicklungsmodell des Joachim von Fiore aus dem Mittelalter an, das von drei Zeiten ausging, die sich nacheinander ablösen.
  • Im Wikipedia-Artikel heißt es: https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_von_Fiore
    1. „Die Geschichte wird in drei Zeitalter gegliedert, welche er mit der Trinität in Verbindung bringt:
    2. Die Zeit des Vaters (Altes Testament),
    3. des Sohnes (beginnt mit dem Neuen Testament und endet nach seiner Vorhersage 1260)
    4. und die des Heiligen Geistes.
    5. Dieses dritte, glückliche Zeitalter werde von der intelligentia spiritualis erleuchtet sein und alle Freuden des Himmlischen Jerusalem (Offenbarung 21) bieten.“
  • Wichtig ist noch:
    Dem Dritten Zeitalter geht die Ankunft des Antichrist voraus, welcher dann von einer kirchlichen Persönlichkeit besiegt wird.“
Was Lessing aus dem Drei-Zeiten-Modell macht

 Dieses Modell macht Lessing nun zur Grundlage einer eigenen Hypothese. Dabei wird die dritte Zeit im Sinne der Aufklärung umgedichtet.

  • Auf die Frage der Religion und besonders des Christentums hat man also zunächst das Alte Testament,
  • das durch das Neue Testament nach Aussage der Bibel selbst erweitert oder sogar überwunden worden ist.
  • Was über Luther als Gründer der evangelischen Konfession hinausgeht, ist, dass Lessing sich eine aufgeklärte Weiterentwicklung des Christentums zu einer Art Aufklärungsreligion vorstellt.
  • Dabei soll dialektisch aus der These „Christentum“ und der Antithese Aufklärung etwas Neues hervorgeht, bei dem die Menschen aus Vernunftgründen ganz von selbst moralisch handeln.
Problem 1: Das christliche Glaubensbekenntnis und Luther
  • Das passt natürlich überhaupt nicht zu dem, was das Glaubensbekenntnis des Christentums und zu Luthers Vorstellung von der Sonderstellung der Bibel besagt.
  • Kein offizieller Vertreter des Christentums hätte in der Öffentlichkeit gesagt, dass das Christentum bis zum neuen Testaments auch nicht das Endstadium der Entwicklung ist.
  • Lessing nun glaubt, dass es eine Kombination von Vernunft und Offenbarung geben werde. Er spricht ja von Dialektik, was man erklären müsste. These wäre dann das Christentum des neuen Testaments, die Anti-These wäre die Herrschaft der Vernunft in der zweite Aufklärung. Die Synthese wäre dann eine neue Endstufe des Christentums.
Problem 2: Die Erfahrung beim Umgang mit Menschen
  • Das Besondere ist also Lessings Vorstellung, dass der Mensch dann nicht aus Nützlichkeitserwägungen heraus (Belohnung des ewigen Lebens) das Gute tut, sondern aus Vernunftgründen. Entstehen wird eine „Reinigkeit des Herzens“, „die uns die Tugend, um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht (§ 80)“.
  • Man merkt schon, dass das der Ringparabel entspricht und auch Kants „Kategorischem Imperativ“.
  • Schon zur Zeit Lessings musste man eigentlich wissen, dass die historischen Erfahrungen mit den Menschen und auch Einsichten in seine Anthropologie diese Perspektive mehr als unwahrscheinlich machen.
  • Das passt übrigens auch zum kategorischen Imperativ, den wir an anderer Stelle schon mal kritisch betrachtet haben.
Lessings Flucht vor den Problemen in eine Privat-Offenbarung
  • Lessing konstruiert sich nun einfach eine seltsame Vorstellung von Gotteslästerung.
  • Die ist gegeben, wenn jemand nicht die gleiche Zukunftshoffnung hat wie Lessing.
  • Das heißt: Gott wird hier gewissermaßen zum Bürgen Lessings.
  • Also primitiver geht es nun wirklich nicht. Letztlich ist es nichts als ein schlechter, aber von Lessing bitterernst gemeinter Scherz, wenn man ein Kernproblem der Prognose einer Vernunftreligion in der Zukunft mithilfe einer eigenen Spezialoffenbarung versucht zu überwinden.
  • Fast schon ein bisschen Mitleid muss man mit Lessing haben, wenn er in diesem Zusammenhang ein regelrechtes Jammergebet vom Stapel lässt:
    In §82 heißt es:
    „Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger! – Die Erziehung hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.“
    Anscheinend hat Lessing noch nie davon gehört, dass die Erziehung keineswegs ein gutes Ergebnis garantiert.
  • Wenn man jetzt noch mal an den Einstieg zurückkehrt, wo Lessing ja so tut, als würde er nur eine Hypothese präsentieren:
    Seit wann gehören dazu Glaubenssätze? In die eigene Hypothese baut er schon die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ein und flüchtet sich dann in Irrationalität.
Lessings Schrift und das Theaterstück
  • Was die Beziehung zum Theaterstück „Nathan der Weise“ angeht, wird deutlich, dass dort gewissermaßen eine fiktive Durchspielvariante präsentiert wird
  • Auch hier haben wir schon darauf hingewiesen, dass der gute Lessing mit vielen Kniffs und Tricks in dem Stück arbeiten muss, damit am Ende eine Menschheitsfamilie da ist.
  • Außerdem wird in der Ringparabel Religion weitgehend auf moralisches Verhalten reduziert.

Weitere Infos, Tipps und Materialien

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