Lichtenstein, „Gesänge an Berlin“ – wie man ein Gedicht sicher analysiert und dabei sogar Reim und Rhythmus einbezieht

Wir wollen hier einfach mal von Grund auf zeigen, wie man Schritt für Schritt erfolgreich ein Gedicht interpretiert.

Außerdem wird am Ende mal versucht, ob Reim und Rhythmus in irgendeiner Weise die Aussagen des Gedichtes unterstützen – oder mehr oder weniger für sich allein stehen.

Alfred Lichtenstein.

Gesänge an Berlin

1

  1. O du Berlin, du bunter Stein, du Biest.
  2. Du wirfst mich mit Laternen wie mit Kletten.
  3. Ach, wenn man nachts durch deine Lichter fließt
  4. Den Weibern nach, den seidenen, den fetten.
  5. So taumelnd wird man von den Augenspielen.
  6. Den Himmel süßt der kleine Mondbonbon.
  7. Wenn schon die Tage auf die Türme fielen,
  8. Glüht noch der Kopf, ein roter Lampion.
    • Zeile 7 kann man so verstehen, dass die Helligkeit des Tages auf die höchsten Stellen der Stadt fallen, es also Abend wird.
    • Zeile 8 bedeutet dann, dass der Tag gewissermaßen im Kopf weitergeht – so voll ist der von den Eindrücken dieser Stadt.
    • Das ist ein typisches Beispiel für eine unklare Stelle, die man versuchsweise klärt.
    • Man macht das, indem man sich das vorstellt, was da beschrieben wird – und dann macht es im Kopf plötzlich „Klick“ – und man hat eine Idee, was das bedeuten könnte.

2
Bald muß ich dich verlassen, mein Berlin.
Muß wieder in die öden Städte ziehn.
Bald werde ich auf fernen Hügeln sitzen.
In dicke Wälder deinen Namen ritzen.

Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern.
Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern.
Wer hat wie ich von eurem Schmerz gewußt.
Kaschemmen, ihr, ich drück euch an die Brust.

3
In Wiesen und in frommen Winden mögen
Friedliche heitre Menschen selig gleiten.
Wir aber, morsch und längst vergiftet, lögen
Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-Schreiten.

In fremden Städten treib ich ohne Ruder.
Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide.
Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder.
Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.