Mini-Klausur zum „Sandmann“: Thomas Koebner: „Die Idylle der Wohlanständigkeit und der gesicherten Verhältnisse trügt“ (Mat7222)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier eine Klausur zu E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“, in der es um einen Sachtext geht, der einen Zusammenhang herstellt zwischen der bürgerlichen Lebenswelt und dem Wahnsinn Nathanaels.

Zu finden ist der Text von  Thomas Koebner in:
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 1. Stuttgart: Reclam, 1988.
(Reclams Universal-Bibliothek. 8413.) S. 277-279.

Wir haben den Text hier aus urheberrechtlichen Gründen nur so präsentiert, wie man braucht, um sich einen Überblick zu verschaffen. Rechts daneben fassen wir den Inhalt zusammen. Das ist ja eine heute übliche Teilaufgabe beim Umgang mit einem Sachtext.

Interessant war für uns dabei die Frage, ob

  1. die Teile des Textes doch durch Zeilenangaben transparent gemacht werden sollten und
  2. ob Schlüsselbegriffe als Zitate eingefügt werden können.

Da die „Inhaltsangabe“ zu Sachtexten noch methodisch ein ziemlich offenes Gelände ist, sollte darüber im Unterricht Klarheit geschaffen werden.

Hier nun also eine Teilübersicht über den Text und die Zusammenfassung der Abschnitte.

Hinweise zur Lösung

Wir präsentieren hier die zitierten Stellen in Kursivschrift und fügen dann die Vorstellung in der Analyse eingerückt hinzu. Damit wird der Zusammenhang zwischen den Originaltexten und dem Kommentar sichtbar.

Der Kommentar enthält sowohl die Elemente der Position als auch kritische Anmerkungen dazu. Außerdem wird einiges an Überprüfung am Text hier offengelassen. Es sollen nur die Spielräume einer Lösung gezeigt werden.

  1. Neben anderen Ursachen für den Wahnsinn Nathanaels verweist Thomas Koebner auf psychische Folgen einer Überdisziplinierung und Selbstbeschränkung, die dem Einzelnen durch die bürgerliche Lebensführung des frühen 19. Jahrhunderts abverlangt wurde.
    • Die erste Satz ist eine Art Einleitung in das eigentliche Textzitat.
    • Behauptet wird hier etwas, was am Text noch überprüft werden muss.
    • Der Herausgeber dieser Textsammlung sieht einen Zusammenhang zwischen den allgemeinen bürgerlichen Verhältnissen im 19. Jahrhundert und der Wahnsinn-Erkrankung der Figur des Nathanael.
    • Es wird im wesentlichen darum gehen, die zwei Aspekte der „Überdisziplinierung und Selbstbeschränkung“ zu überprüfen.
    • Auf den ersten Blick mag das für die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse im frühen 19. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der Industrialisierung gelten. Im Hinblick auf Nathanael als Figur der Novelle erschließt sich das aber nicht auf den ersten Blick.
    • Rein theoretisch könnte hier ein Missverständnis vorliegen. Auf jeden Fall müssen die Beziehungen zwischen historisch nachweisbarer gesellschaftlicher Entwicklung und der Situation, dem Verhalten und dem Schicksal der Figur untersucht werden.
  2. »Hinter der wohlanständigen Fassade des Bürgerhauses, in dem Nathanaels Familie wohnt, rumort es verdächtig. 
    • Der zitierte Text beginnt mit der Beobachtung, dass es gewissermaßen eine scheinbar wohlanständige Außenseite bei Nathanaels Familie gibt. Darunter gibt es eine Ebene, die mit dem Wort „Rumor“ gekennzeichnet wird.
    • Gemeint ist damit wohl ein Geräusch, das angedeutet, dass da etwas geschieht, was nicht zur Normalität der Verhältnisse gehört.
  3. Im Arbeitszimmer gibt es ein verstecktes alchemistisches Kabinett. Unter der Oberfläche willfähriger Friedfertigkeit bei der Person des Vaters enthüllen sich dem Sohn ganz unbegreifliche Begierden, die den Vater sogar einen Bund mit dem Feind der Familie eingehen lassen. Im ersten Stock des ehrbaren Hauses, wo sonst nur Ruhe und Gleichmaß herrschen, gibt es schließlich eine Explosion.
    • Was der Vater mit dem Anwalt in seinem Arbeitszimmer macht, wird gleich moralisch ins Negative verschoben. Das wäre am Text noch mal zu überprüfen. Man darf ja nicht vergessen, dass alles, was wir erfahren, aus der Perspektive des Jungen geschildert wird. Und wenn der die Tätigkeiten des Vaters in einen teuflischen Zusammenhang stellt, muss das ja nicht für den Vater gelten.
  4. Der Student Nathanael, der sonst seiner schon früh angelobten Clara anmutige Gedichtlein zum geselligen Zeitvertreib vorträgt, während sie strickt und stickt und aus dem Fenster guckt, wird plötzlich von dunklen Ahnungen und gräßlichen Träumen überwältigt.
    • Beschrieben wird dann, was bei Nathanael angeblich im Kontrast zueinander zu stehen scheint.
    • Hier werden natürlich zwei Zeitpunkte miteinander vermischt, nämlich zunächst das unmittelbar bedrückende Erlebnis mit dem Anwalt und seinen Experimenten. Und dann das, was Nathanael mit Klara macht. Dafür muss natürlich berücksichtigt werden, dass sie sich von Kindesbeinen an kennen. Die Frage ist, ob es im Text entsprechende Hinweise gibt, die diese zeitliche Fast-Parallelität belegen.
  5. Der brave Mann, dessen Lebensweg an der Seite Claras schon so deutlich vorgezeichnet scheint, entwischt dem bürgerlichen Programm in eine leidenschaftliche und falsche Liebe zu einer Puppe und verfällt schließlich dem Wahnsinn.
    • In diesem Satz wird die kontrastive Verbindungslinie noch ausgezogen bis zu Olimpia.
    • Fraglich ist die Verwendung des Verbs „entwischen“. Das impliziert nämlich einen heimlichen Fluchtgedanken. Es wäre zu prüfen, ob das bei Nathanael vorliegt.
  6. Als die Familienharmonie wiederhergestellt und der verlorene Sohn eingefangen scheint, kommt es zu einem zweiten, noch bösartigeren Ausbruch: Nathanael wird beinahe zum wahnsinnigen Mörder von Clara.
    • Diese Interpretation von Situation und Verhalten Nathanaels wird dann in diesem Satz fortgesetzt, wenn von „eingefangen“ die Rede ist. Insgesamt verstärkt sich der Eindruck, dass die bürgerliche Wohl-Anständigkeit als etwas sehr Negatives gesehen wird. Es wäre zu prüfen, ob Nathanael diese Wiederherstellung nicht eher als angenehm empfindet und gewissermaßen der Wieder- Erweckung eines Traumas zum Opfer fällt, was nicht hätte passieren müssen.
  7. Die Idylle der Wohlanständigkeit und der gesicherten Verhältnisse trügt. Im Bürger tun sich Abgründe auf – und man kann argwöhnen, daß diese Abgründe spezifisch mit der bürgerlichen Lebensführung zu tun haben. Ob nicht das extreme Sichruhigstellen und die Selbstentäußerung an die Gebote und Regeln der Außenwelt, das Verdrängen der Triebregungen, um  unauffällig und klein zu bleiben, zu einer künstlichen Identität führen, die manchem wie Nathanael schon den Blick dafür verwirren kann, was Natur und was Maschine ist?
    • Hier setzt sich der grundsätzliche Interpretationsansatz, der eher von der Gesellschaft als von der Figur ausgeht, fort.
    • Er bewegt sich vorwiegend im hypothetischen Rahmen. Man hat den Eindruck, dass eine These mit einer Hypothese bewiesen wird, was natürlich logisch äußerst problematisch ist. Hier kann der Autor als möglicher Kenner der Besonderheiten der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Industrialisierung gewissermaßen Opfer eines größeren Überblicks geworden sein. Er überträgt dann Kenntnisse aus dem Bereich vorschnell auf das Verständnis einer literarischen Figur . 
    • Letztlich muss man schauen, wie es mit der Figur, wie sie in der Novelle gezeichnet wird, aussieht. Dann wird sich herausstellen, ob die These des Autors sich aus der Darstellung der Novelle ergibt oder eine durchaus sinnvolle, aber weithergeholte Interpretation von außen ist.
  8. Auch mag es nicht verwundern, daß diese Domestizierung des eigenen Lebens bei einigen umschlägt in verzweifelte Ohnmachtsgefühle und eine allseitig reduzierte Persönlichkeit hervorbringt, derer man am Ende durch Selbstvernichtung ledig wird. 
    • Auch hier eine sehr problematische Beweisführung, die mit dem Begriff der Verwunderung operiert. Der hat aber mit Rationalität nicht viel zu tun.
    • Die reduzierte Persönlichkeit und Selbstvernichtung müssten überprüft werden.
  9. Unter diesem Aspekt gesehen, zeigt die Erzählung Der Sandmann, wie die Selbstbeschränkung eines Menschen auf seine Familienrolle, seine Familienperson, wie die Überanpassung an die bürgerlichen Vorschriften der Selbstentwertung, der Ein-und Unterordnung zerstörerische und selbstzerstörerische Konsequenzen bergen.«
    • Das gleiche gilt für die Elemente der Schluss-These.

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