Nora Bossong, „Besuch“ – oder die Frage, wie geht man mit dem Altern um?

Worum es hier geht:

Wir stellen von Nora Bossong das Gedicht „Besuch“ vor, in dem es um eine alte Frau geht, die mit ihrem Leben eigentlich abgeschlossen hat, aber glaubt, noch mit der jüngeren Besucherin viel Zeit zu haben.

Gefunden haben wir das Gedicht hier:
https://dlite.ro/de/besuch-ein-gedicht-von-nora-bossong/

Analyse des Gedichtes
  1. In den ersten fünf Zeilen
    • werden die Situation und das Verhalten einer alten Frau beschrieben, die „tagelang am Fenster“ sitzt und es nicht einmal mehr schafft, mit einem Taschentuch zu winken –
      und zwar in eine Welt, „die sie nicht mehr betritt“.
    • Deutlich werden hier also Einsamkeit, Schwäche und Resignation, wie sie bei alten Menschen zu finden sind, um die sich niemand ausreichend kümmert.
  2. In diesem Gedicht ist das zumindest kurzzeitig anders.
    • In einer grandiosen Überleitung wird das draußen aus der Sicht der alten Frau als ein Fernsehbild betrachtet,
    • bei dem man sich wundert, wie von dort aus das lyrische Ich überhaupt dieses Zimmer noch betreten kann.
    • Das macht auf beeindruckende Art und Weise die Entfernung dieses alten Menschen von der Wirklichkeit der lebendigen Welt deutlich.
  3. Ab Zeile acht
    • geht es dann um ein Minimum an Kommunikation.
    • Die ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass die alte Frau sich anscheinend überhaupt nicht für den Neuankömmling interessiert, ihm keine Fragen stellt.
    • Sie begnügt sich damit einfach mitzuteilen, dass sie an der Grenze ihres Verständnisses der Außenwelt angelangt ist.
    • Und sie erklärt das damit, dass sie selbst eben nicht die klügste ist.
    • Die wirklichen Gründe dürften ganz woanders sein, nämlich in einer Kombination von Desinteresse und mangelhafter Betreuung.
  4. Sehr gelungen
    • ist dann auch der Vergleich der Wohnung der alten Frau mit der zu großen Schale einer Muschel, die in einem „Zeitschlick“ vergraben ist, der nicht mehr zur Stadt gehört.
    • Das soll wohl deutlich machen, dass die Erinnerung der alten Frau, ihr Zeitkontext, ihre Geschichte nicht mehr zu denen gehört, die jetzt das pulsierende Leben der Stadt ausmachen.
  5. Ab Zeile 17
    • wird dann beschrieben, wie es zu dem aktuellen Zustand kam, ein Vorgang, der als „Verzwergung“, also als „immer kleiner werden“, beschrieben wird.
    • Dann wird deutlich gemacht, was diese Frau früher ausgezeichnet hat, „mondäner Gang“ – also ein Auftreten, das zur Welt der Großen gehört,
    • ein „Blinzeln,“ dass man mit der Luft eines Kasinos vergleichen kann, also wieder eines Ortes, an dem das Leben reicher und bedeutender Menschen stattfindet.
  6. Ab Zeile 22
    • geht es dann wieder um Kommunikationsreste, die nur noch aus Wörtern bestehen wie „vielleicht“ und „irgendwann“.
    • Deutlich wird auch, dass diese Frau ihre aktuelle Situation und den seltsamen Fernsehblick aus dem Fenster gar nicht aufgeben will.
    • Von ihr wird gesagt, sie sei so dünn geworden, dass sie keinen Tag mehr spürt.
    • Gemeint ist damit wohl, dass die jeweils neue Realität eines Tages sie gar nicht mehr berührt.
  7. In den letzten zwei Zeilen
    • dann noch einmal der Versuch einer Verständigung,
    • die sich darauf beschränkt, festzustellen, dass man ja gemeinsam noch Zeit hat.
    • Das Problem ist nur, dass diese Zeit eigentlich keinen Inhalt mehr hat.
Zusammenfassung – Aussagen 
  1. Insgesamt
    • ein Gedicht, das auf beeindruckende, aber auch bedrückende Art und Weise deutlich macht, wie reduziert
    • oder – um es mit einem Wort des Gedichtes zu sagen – wie verzwergt das Leben eines alten Menschen sein kann,
    • der selbst nicht mehr die Kraft zu irgendwelchen Impulsen hat
    • und auch anscheinend niemanden findet, der ihn aus dieser Situation herausholt.
  2. Das Gedicht regt an, nach Situationen und Menschen zu fragen, denen es so ähnlich geht wie dieser alten Frau.
  3. Es regt aber auch an, nach alten Menschen Ausschau zu halten, die sich ihre Menschenwürde, Aktivitäten und Autonomie bis zuletzt erhalten (können). Damit verbunden ist die spannene Frage, was dazu führt, dass eher ein Weg in Einsamkeit und Verzwergung beschritten wird oder einer, der bei allem Kleiner-Werden der Aktionsmöglichkeiten doch noch viel Leben zeigt
Anregungen 
  1. Uns ist dazu der Titel einer Autobiografie eingefallen:
    Lotti Huber, „Diese Zitrone hat noch viel Saft.“
    In der Produktbeschreibung bei Amazon heißt es über diese Frau:
    https://www.amazon.de/Diese-Zitrone-noch-viel-Saft/dp/3423202238
    Wir haben das mal aufgelistet, damit der Erfahrungs-Reichtum einer Frau deutlich wird, die eben im Alter in sich noch viel „Saft“, also wohl Lebenslust, verspürt – trotz einer äußerst gefährlichen Situation in Nazi-Deutschland:

    • „Lotti Huber, am 16. Oktober 1912 als Tochter großbürgerlicher jüdischer Eltern in Kiel geboren, wollte immer zur Bühne, zum Theater.
    • Aber die Nazis schickten sie ins KZ.
    • Sie wurde freigekauft, ging nach Palästina und Ägypten,
    • tanzte in Nachtklubs, heiratete einen englischen Offizier,
    • ging dann nach Zypern, wo sie ein Restaurant eröffnete,
    • nach 1945 mit ihrem zweiten Mann nach London
    • und Anfang der 60er Jahre nach Berlin.
    • Sie gab Englischunterricht, übersetzte Trivialliteratur, eröffnete eine Tanzschule, arbeitete als Filmstatistin,
    • lernte Rosa von Praunheim kennen
    • und wurde mit 75 Jahren zum Star.
    • Lotti Huber starb am 31. Mai 1998 in Berlin.“
  2. Man kann dieses Gedicht auch gut vergleichen mit einer Kurzgeschichte von Bertolt Brecht:
    Uns fiel der Titel nicht gleich wieder ein – eine gute Gelegenheit, mal wieder die Künstliche Intelligenz von Bing/Copilot zu testen:

    • Unsere Frage – es kommt ja immer auf ein gut formuliertes „Prompt“ an:
      „kannst du mir den Titel einer Kurzgeschichte von Bertolt Brecht nennen, in dem er das Leben seiner Großmutter beschreibt, die sich im Alter zum Entsetzen ihrer Kinder ein hohes Maß an Autonomie bewahrt?“
    • Und die Antwort der KI am 12.5.2024
      Natürlich! Die Kurzgeschichte, die du suchst, heißt “Die unwürdige Greisin”. In dieser Erzählung beschreibt Bertolt Brecht das Leben seiner Großmutter, die sich im Alter trotz der Erwartungen ihrer Kinder ein hohes Maß an Autonomie bewahrt. Die Geschichte kritisiert Geschlechterrollen und die Erwartung, dass Mütter und Großmütter aufopferungsvoll und verzichtend handeln sollten12. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, kannst du die vollständige Geschichte hier lesen. 📖