Novalis, „Wenn alle untreu werden“ – (nur) ein „geistliches Lied“ für das Gesangbuch – oder auch ein Liebesgedicht? (Mat2654)

Worum es hier geht:

Wenn man das Gedicht „Wenn alle untreu werden“ ganz unbefangen liest und daran denkt, wie sehr Novalis um seine gestorbene Verlobte getrauert hat, dann kann man da durchaus ein Liebesgedicht drin sehen. Wir zeigen, dass dabei die wunderbar tröstliche Aussage herauskommt, dass man tatsächlich liebe, aber leider verstorbene Menschen in sich weiterleben lassen kann. Das wäre dann schon so etwas wie „romantisieren“.

Inzwischen gibt es auch ein Video zu dem Thema:

https://youtu.be/nNtmVh3RpC8

Hier kann auch die Dokumentation angesehen oder heruntergeladen werden.

Mat2654 Novalis wenn alle untreu werden ein Fall von romantisieren

Friedrich von Hardenberg (Novalis)

Wenn alle untreu werden

Wenn alle untreu werden,

So bleib‘ ich dir doch treu;

Dass Dankbarkeit auf Erden

Nicht ausgestorben sei.

Für mich umfing dich Leiden,

Vergingst für mich in Schmerz;

Drum geb‘ ich dir mit Freuden

Auf ewig dieses Herz.

  • Das lyrische Ich will hier im Unterschied zu allen anderen jemandem treu bleiben, dem es sich zum einen zur Dankbarkeit verpflichtet fühlt und dem gegenüber es auch so etwas wie Mitleid empfindet angesichts des Leidens, das mit diesem Jemand verbunden ist.


Oft muss ich bitter weinen,

Dass du gestorben bist,

Und mancher von den Deinen

Dich lebenslang vergisst.

Von Liebe nur durchdrungen

Hast du so viel getan,

Und doch bist du verklungen,

Und keiner denkt daran.

  • Hier wird der Tod dieses Jemand deutlich hervorgehoben
  • und dann der nicht zu akzeptierende Gegensatz von dem, was dieser Jemand getan hat
  • und der Tatsache, dass er jetzt „verklungen“, also vergessen ist.


Du stehst voll treuer Liebe

Noch immer jedem bei,

Und wenn dir keiner bliebe,

So bleibst du dennoch treu;

Die treuste Liebe sieget,

Am Ende fühlt man sie,

Weint bitterlich und schmieget

Sich kindlich an dein Knie.

  • Wenn man nicht gleich davon ausgeht, dass dieses Gedicht, das bei den „geistlichen Liedern“ von Novalis zu finden ist, sich auf Jesus als Heiland der an Christus Gläubigen bezieht, dann hat man das Problem, dass dieser Jemand auch nach seinem Tod noch weiterwirkt.
  • Wir werden nachher noch sehen, dass es bei der Interpretation auch eine besondere Art von „produktiven Irrtümern“ geben kann 😉


Ich habe dich empfunden,

O! lasse nicht von mir;

Lass innig mich verbunden

Auf ewig sein mit dir.

Einst schauen meine Brüder

Auch wieder himmelwärts,

Und sinken liebend nieder,

Und fallen dir ans Herz.

  • Das lyrische Ich bekennt hier, dass es diesen Jemand auch nach seinem Tod noch „empfunden“ hat.
  • Dann folgt der Wunsch, „auf ewig“ mit diesem Jemand verbunden zu sein.
  • Etwas seltsam für eine nicht-christliche Interpretation sind dann natürlich „meine Brüder“, die da auch noch auftauchen.
  • Auf jeden Fall gibt es am Ende eine harmonische Zukunftsvision, in der nicht nur das lyrische Ich, das man hier wohl weitgehend mit Novalis gleichsetzen darf, mit dem Jemand vereint sind.

Nun müssen wir natürlich zur Sache kommen.

Dieses Gedicht macht am meisten Sinn, wenn man es als „geistliches Lied“ ernst nimmt und auf Jesus als den Mittelpunkt des Christentums bezieht.

Die Frage ist aber, ob der Irrtum, der sich bei einem heutigen Leser einschleichen kann, nämlich, dass es sich um ein Liebesgedicht handelt und sich auf die vier Jahre vor ihm verstorbene heißgeliebte Freundin von Novalis bezieht, nicht vielleicht doch sehr produktiv ist.

Letztlich hätten wir dann nämlich hier einen schönen Fall von „Romantisierung“: Das lyrische Ich gibt nämlich jemandem, der bei den anderen  schon „verklungen“ ist, einen „höheren Sinn“ und gewinnt dadurch sogar von einem / einer Toten eine positive Rückwirkung.

Auf jeden Fall ein spannender Fall, der ein weiter gefächertes Licht auf das Wesen von Literatur wirft, als es nur die Germanistik zu bieten hat.

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