Robert Seethaler „Der Trafikant“ – Abschied von Sigmund Freud (Mat1713-15)
Worum es hier geht:
Wir wollen den Roman von Robert Seethalter möglichst so vorstellen, dass man
gleich weiß, worum es geht,
Durchblick beim Inhalt
und beim Aufbau des Romans hat,
Hinweise zum Verständnis bekommt
und zur Frage, was man damit anfangen kann.
Abschied von Sigmund Freud
In diesem Abschnitt spielt der Briefträger Heribert Pfründtner eine wichtige Rolle.
Zunächst einmal bekommt man seine Haltung zum Nationalsozialismus und zu Hitler mit: Da sei „zugegebenermaßen vielleicht manches zum Guten verändert“ worden – als Beispiel werden aber nur Briefmarken genannt.
Dann aber wird einiges Negative aufgezählt, vom Umgang mit den Juden („ein bisschen eine Sauerei“) bis hin zur Zensurkontrolle der Brief- und Paketsendungen.
Als dann beim Betreten der Trafik Franz den Hitlergruß mit der Bemerkung beantwortet, „den Hitler können Sie sich sonstwo hinstecken“, tut der Briefträger doch lieber, „als ob er nichts gehört hätte“.
Dann bekommt Franz die entscheidende Information, dass sein Professor Freud am nächsten Tag nach England in die Emigration gehe.
Dementsprechend macht sich Franz gleich auf den Weg zu ihm.
Dort muss er erst mal eine Gestapowache austricksen und trifft dann auf einen ziemlich altersschwachen Professor, dem er ein paar mitgebrachte Zigarren übergibt, was Freud bei einer, die er wegsteckt, mit den Worten kommentiert: „Die ist für das Königreich […] Die ersten Züge in Freiheit.“
S. 223: Dann erzählt Franz vom Stand seiner Beziehung zu Anezka und bekommt vom Professor einen ziemlich resignierenden Hinweis:
„Als ich damals in Timelkam in den Zug gestiegen bin, hat mir das Herz wehgetan , fuhr Franz fort,
und als mir die Anezka zum ersten Mal da- vongerannt ist, da hätten zehn Doktoren nicht ausgereicht, den Schmerz wegzubehandeln.
Aber immerhin hab ich ungefähr gewusst, wohin ich gehe und was ich will.
Jetzt ist der Schmerz fast weg, aber ich weiß gar nichts mehr.
Ich komme mir vor wie ein Boot, das im Gewitter seine Ruder verloren hat und jetzt ganz blöd von da nach dort treibt.
Da haben Sie es eigentlich viel besser, Herr Professor , fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu.
Sie wissen genau, wo Sie hingehen.
—
Freud seufzte. ‚Immerhin kommen mir die meisten Wege schon irgendwie bekannt vor.
Aber eigentlich ist es ja gar nicht unsere Bestimmung, die Wege zu kennen.
Es ist gerade unsere Bestimmung, sie nicht zu kennen.
Wir kommen nicht auf die Welt, um Antworten zu finden, sondern um Fragen zu stellen.
Man tapst sozusagen in einer immerwährenden Dunkelheit herum,
und nur mit viel Glück sieht man manchmal ein Lichtlein aufflammen.
Und nur mit viel Mut oder Beharrlichkeit oder Dummheit oder am besten mit allem zusammen kann man hie und da selber ein Zeichen setzen!'“
Am Ende wird Franz selbst bewusst, wie sehr er sich verändert hat:
„Es kam ihm vor, als hätte er noch nie in seinem Leben so viel geredet.
Und vielleicht war das ja auch so.
Früher war ihm das Nichtreden immer als äußerst erstrebenswert erschienen,
was sollte man sich schon großartig erzählen in der Umgebung von Bäumen, Schilfhalmen oder Algen?“
Am Ende ist der Professor eingeschlagen und Franz verlässt leise das Haus.
—
Anregung: Es fällt auf, dass immer wieder von einem Weberknecht die Rede ist, einem Spinnentier. Hier könnte man prüfen, welche Funktion diese Parallelhandlung hat und in welcher Beziehung sie zum Gespräch steht.
S. 218: „In diesem Moment wurde ihr Blick fast gleichzeitig nach oben gelenkt, wo sich direkt über der Couch ein Weberknecht seinen Weg über die Zimmerdecke zitterte. In einem weiten Bogen tänzelte er in eine Ecke, blieb stehen, bitte noch ein bisschen aus und rührte sich nicht mehr.“
S. 221: „An der Decke hatte sich der Weberknecht wieder zu bewegen begonnen, taste e sich ein paar Schritte aus seiner Ecke heraus, lief jedoch gleich wieder zurück und schien endgültig zu erstarren.“
S. 223: „Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des Professors, er steckte seine Zigarre zwischen die Zähne, stieß sich mit beiden Fäusten von der Couch ab, kam irgendwie in die Höhe und stand eine Sekunde leicht wankend da. Dann ging er mit knacksenden Kniegelenken zux Zimmerecke, wo hoch über ihm der Weberknecht hockte. Warum um alles in der Welt darf der hierbleiben, während ich, der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse, gehen muss! , stieß er wütend hervor, reckte seinen Arm in die Höhe und schüttelte dem Tier drohend seine Faust entgegen. Der Weberknecht erzitterte kurz, hob ein Bein, setzte es wieder ab und bewegte sich nicht mehr. Freud blickte ihn eine Weile herausfordernd an. Schließlich ließ er seinen Arm sinken und starrte stumm gegen die vom Rauch angebräunte Tapete.
‚Ich glaube, so ein Weberknecht hat es bestimmt auch nicht immer leicht, Herr Professor!‘, sagte Franz vorsichtig in die Stille hinein.
Freud sah ihn an, als hätte er soeben etwas völlig Neues entdeckt, eine völlig unbekannte Lebensform, die sich während einer langen Abwesenheit auf seiner Couch ausgebreitet hatte. Mit einer müde flatternden Handbewegung winkte er ab.“
S.230: Als Franz geht, „blickte er noch einmal zur Decke hoch. Der Weberknecht war verschwunden.“
Ab S. 230 wird dann zunächst aus der Perspektive von Freuds Tochter Anna geschildert, wie sie mit ihrem Vater und einigen anderen, vor allem aber mit viel Gepäck den Zug besteigt, der sie zunächst nach Paris bringen soll. Nur kurz kommt es zu einem Blickkontakt mit Franz, der sich im Hintergrund hält.
Ab S. 233 wird dann noch in einer Art Rückblick aus der Perspektive von Franz genauer erzählt, wie es ihm gegangen ist, als er das Haus des Professors verließ und wie es ihm dann auf dem Bahnhof geht.
Anregung: Interessante Frage, warum dieser Abschied gewissermaßen zweimal erzählt wird.
S. 236: Wichtig noch, dass Franz sich an einer Gaslaterne wieder dran erinnert, wie es ihm bei seiner Ankunft gegangen ist: „Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buben nicht mehr gab.“