Roman Ritter, „Das Bürofenster“ als Gedicht der „neuen Subjektivität“ (Mat6308)

Worum es hier geht:

In der deutschen Literatur nach 1945 taucht in den 70er Jahren der Begriff „Neue Subjektivität“ auf. Gemeint ist damit, dass man sich nicht wie in den Jahren und Jahrzehnten vorher immer auch intensiv mit politischen Themen beschäftigt: Bewältigung des Krieges direkt nac h1945, in den 60er Jahren dann zunehmend Kritik an der gesellschaftlichen Situation und auch dem Staat.

Stattdessen wendet man sich den eigenen Beobachtungen und Gedanken zu, die direkt etwas mit einem selbst zu tun haben.

Ein schönes Beispiel dafür ist das Gedicht „Das Bürofenster“ von Roman Ritter, wohl aus dem Jahre 1978. Das muss ggf. noch mal überprüft werden. Uns interessiert hier nur das Beispielhafte für den angesprochenen Trend der „neuen Subjektivität“.

Gefunden haben wir das Gedicht hier.

Herausarbeitung der Subjektivität in Versgruppe 1

Zum Begriff der „Versgruppe“: Gemeint sind durch Leerzeilen abgetrennte Abschnitte im Gedicht, die im Unterschied zu liedartigen Strophen keine Einheitlichkeit aufweisen.

  • In der ersten Strophe beschreibt, das lyrische ich einfach nur seine Situation und das, was es sieht.
  • Das Ganze erfolgt völlig sachlich, ohne dass am Anfang irgendwelche Gefühle ausgedrückt werden oder man Kommentierungen liest.
Versgruppe 2

In der zweiten Versgruppe, setzt sich das fort, wobei auch einbezogen wird, welche Wirkung ein Element auf das lyrische Ich hat

Versgruppe 3

In der dritten Versgruppe wird das lyrische Ich aktiv und wendet sich der Natur draußen etwas näher zu und beschreibt auch, was für Empfindungen dadurch bei ihm ausgelöst werden.

Versgruppe 4
  • Diese Versgruppe präsentiert einfach die Gedanken des lyrischen Ichs, was man jetzt in der Situation draußen tun könnte.
  • Deutlich wird, dass hier fantasie volle Vorstellungen ausgelöst worden sind.
Ungewolltes Zwischenfazit

Da wir das Gedicht beim Spazierengehen in einem Park auf dem Smartphone nicht komplett vor uns hatten und es vorher auch nicht kannten (unsere Lieblingssituation, weil man da ganz unbefangen sich dem Ersteindruck widmet 😉, sind wir genau diesem Ersteindruck zum Opfer gefallen und haben Folgendes als vorläufiges Fazit festgestellt.

  • „Insgesamt“ 😉 ein Gedicht, das nichts anderes präsentiert als die eigene Situation und das, was man wahrnimmt und was das bei einem auslöst.
  • Das geht bis hin zu fantasievollen Vorstellungen.
  • Alles bleibt allerdings relativ begrenzt im Stile von nüchterner Sachlichkeit.
  • Man könnte sich überlegen, was hier der Unterschied ist zu einem Gedicht der Epoche der „Neuen Sachlichkeit.“
  • Man denke etwa an Kästners „Sachliche Romanze“
    https://textaussage.de/erich-kaestner-sachliche-romanze
    und dann kann man schon mal eine Hypothese aufstellen:
  • Dort bleibt die Beschreibung auf einer Oberfläche, die das eigentlich Dramatische des Vorgangs in die Bahn nüchterner Betrachtung zurückdrängt oder dort gezwungen hält.
  • In diesem Gedicht hier ist es insofern anders, weil zu großen Gefühlen auch kein Anlass da ist.
  • Das ist also letztlich wohl ein erster Unterschied zwischen diesen beiden literarischen Strömungen.

Wir haben dieses seltsame Zwischenfazit einfach mal drin gelassen, weil dadurch deutlich wird, wie sich beim weiteren Lesen das Verständnis noch verändern kann.

Versgruppe 5
  • Tatsächlich erfolgt hier eine Erweiterung, nämlich in Richtung Einbeziehung des Chefs. Der ist natürlich im Büroalltag immer irgendwo im Hinterkopf der Angestellten präsent.
  • Und in diesem Falle kommt etwas ziemlich Selbstverständliches dabei heraus, nämlich die negative Einstellung gegenüber Angestellten, die statt zu arbeiten, ins Freie schauen.
  • Übrigens sollte man diesen Begriff „das Freie“ mal im Gedächtnis behalten. Das ist so eine Art „sprachliches Mittel in der Interpretation“. 😉
„Versgruppe“ 6
  • Hier von Versgruppe zu sprechen ist natürlich etwas schräg. Diese Verszeile steht ja irgendwie allein im Raum.
  • Vielleicht hilft das Nachdenken darüber aber auch, diese Sonderstellung etwas genauer zu betrachten.
  • Vielleicht ist sie ja so eine Art Dreh- und Angelpunkt des Büroalltags: Es gibt zwar ein Fenster, aber das ist nicht dazu gedacht, hinauszuschauen, sondern soll nur natürliches Licht einfließen zu lassen. Das hebt etwas die Stimmung und erspart Stromkosten.
  • In der Sache geht es um etwas, was jeder nachvollziehen kann: Ist eine mögliche Bedrohungslage erkannt, reagiert man einfach drauf.
Herausarbeitung der Subjektivität in Versgruppe 7

27 Wenn der Hausmeister die Hecke beschneidet
28 kann man von den herabgefallenen Zweigen
29 ein paar in die Vase stellen,
30 die auf dem Büroschrank steht.

  • Am Ende versucht das lyrische Ich eine Art Synthese zwischen der eigenen Sehnsucht, noch etwas mehr von der Natur mitzubekommen, und den Begrenzungen und Einschränkungen, denen es ausgesetzt ist.
  • Es zeigt sich dann die Reduzierung auf eine Naturbegegnung in heutiger Zeit, die hier erkennbar durch das bestimmt ist, was der Titel bereits ausdrückt.
  • Letztlich macht das Gedicht Folgendes deutlich:
    • Man lebt in einer modernen Welt, deren Vorteile in diesem Gedicht zwar nicht thematisiert werden, die es aber natürlich gibt.
    • Früher war es ganz selbstverständlich, dass Bauern (und das waren die meisten), nie aus ihrem Tal herausgekommen sind. Allenfalls waren sie mal auf dem Markt einer entsprecht ausgerichteten Stadt.
    • Es gibt also diese Fortschritte, die wir ganz selbstverständlich als natürlich hinnehmen und häufig auch genießen (außer den Staus auf dem Weg zur Arbeit z.B.).
    • Aber dieses Leben hat auch seine Zwänge und entfernt uns von einem natürlichen Leben. So etwas wie ein Bauernkalender beim Wetter kann nicht mehr entstehen, wenn man zwischendurch nur kurz auf die Wetter-App schaut.
  • Über all dies könnte man jetzt weiter nachdenken und auch diskutieren:
    Was bleibt vo den Menschen übrig, wenn sie durch die moderne Arbeitsorganisation und Technik immer mehr in naturferne Räume gedrängt werden.
Verschiebung der Subjektivität in unsere Zeit: Kreative Idee
  • Besonders extrem wäre es natürlich, wenn man dieses Gedicht heute aktualisieren würde.
  • Dann würde das lyrische Ich sich im Büro einen Bildschirmschoner mit der Naturansicht einstellen, die es am meisten liebt, vielleicht einen Leuchtturm in der Abendsonne – das wäre dann ein heimliches Signal, wie sehr man das Ende des Arbeitstages herbeisehnt.
  • Zur Zeit der Entstehung dieses Gedichtes konnte man das Büro nur mit entsprechenden Bildern ausstatten.
  • Allerdings haben wir mal von einer Kanzlei gehört, in der der Chef sogar das verboten hat. Man musste den ganzen Tag die Bilder anstarren, die große Kunst darstellen sollten. Man verstand sie nicht – und die Stimmung wurde dadurch auch nicht besser.
  • Sie hatten nur einen Vorteil: Wenn man nachts von ihnen träumte, hatte man morgens noch weniger Lust, ins Büro zu gehen. Ironie off.

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