Schnitzler, „Ein Abschied“ Novellenanfang als Kurzgeschichte? (Mat8693)

Worum es hier geht:

Im Rahmen des Zentralabiturs 2024 wurde in Bayern wohl in einer Aufgabe Bezug genommen zu der Novelle „Ein Abschied“ von Arthur Schnitzler.

Das war und ist interessant, weil die mehrseitige Novelle dabei auf den Anfangsteil gekürzt wurde.

Das wirft die Frage auf, ob man diesen Teil nicht auch als Kurzgeschichte ansehen könnte.

Gefunden haben wir die ganze Novelle hier.

Wir fügen hier in kursiver Schrift den Teil ein, der in der Abiturprüfung eine Rolle spielte und zeigen mit Zwischenkommentaren auf, wie hier zu bestimmten Aussagen des Textauszugs hin gelenkt wird.

Der Anfang der Novelle mit erläuternden Zwischenüberschriften

Arthur Schnitzler

Ein Abschied

Eine Stunde wartete er schon. Das Herz klopfte ihm, und zuweilen war ihm, als hätte er vergessen zu atmen; dann zog er die Luft in tiefen Zügen ein, aber es wurde ihm nicht wohler. Er hätte eigentlich schon daran gewöhnt sein können, es war ja immer dasselbe; immer mußte er warten, eine Stunde, zwei, drei, und wie oft vergebens. Und er konnte es ihr nicht einmal zum Vorwurf machen, denn wenn ihr Mann länger zu Hause blieb, wagte sie sich nicht fort; und erst wenn der weggegangen war, kam sie hereingestürzt, ganz verzweifelt, ihm rasch einen Kuß auf die Lippen drückend, und gleich wieder davon, die Treppen hinunterfliegend, und ließ ihn wieder allein. Dann, wenn sie fort war, pflegte er sich auf den Divan zu legen, ganz matt von der Aufregung dieser entsetzlichen Wartestunden, die ihn unfähig zu aller Arbeit machten, die ihn langsam ruinierten. Das ging nun schon ein viertel Jahr lang so, seit dem Ende des Frühlings. Jeden Nachmittag von drei Uhr an war er in seinem Zimmer bei heruntergelassenen Rouleaus und konnte nichts beginnen; hatte nicht die Geduld, ein Buch, kaum, eine Zeitung zu lesen, war nicht imstande, einen Brief zu schreiben, tat nichts als Zigaretten rauchen, eine nach der andern, daß das Zimmer ganz im blaugrauen Dunste dalag. Die Tür zum Vorzimmer stand immer offen; und er war ganz allein zu Hause, denn sein Diener durfte nicht da sein, wenn sie kommen sollte; und wenn dann plötzlich die Klingel schrillte, fuhr er immer erschreckt zusammen. Aber wenn nur sie es war, wenn sie es nur endlich wirklich war, da war es ja schon gut! Da war ihm, als löste sich ein Bann, als wäre er wieder ein Mensch geworden, und er weinte manchmal vor lauter Glück, daß sie nur endlich einmal da war, und daß er nicht mehr warten mußte. Dann zog er sie rasch in sein Zimmer, die Tür wurde geschlossen, und sie waren sehr selig.

Einleitung – direkter Einstieg in eine bestimmte Beziehungssituation
  • Deutlich wird, wie abhängig sich der Mann von seiner Geliebten und ihrer schwierigen Situation gemacht hat.
  • Dies führt zu langem Warten
  • und im Idealfall anscheinend nur zu einer kurzen, wenn auch angeblich schönen Gemeinsamkeit.
  • Ansonsten kann es auch sein, dass es nur zu einem hektischen Kurz-Kuss-Kontakt kommt.
  • Grund ist, dass die Frau verheiratet ist und diese Treffen geheim bleiben müssen, auch abhängig sind vom zeitlichen Verhalten des Ehemannes.
  • Wichtig ist noch, dass diese sich die Kurzbesuche beim Liebhaber ziemlich schlecht auswirken. Es ist sogar die Rede, dass sie ihn „ruinierten“.
  • Wenn es allerdings mit einer längeren Gemeinsamkeit klappt, sind beide angeblich selig.
  • Kommentar: Es fällt auf, dass alles aus der Perspektive des Liebhabers geschildert wird – und die Seligkeit von ihm nur behauptet wird.
Abhängigkeit des Mannes Verdacht falschen Lebens

Es war verabredet, daß er täglich bis punkt sieben zu Hause zu bleiben hatte; denn nachher durfte sie gar nicht mehr kommen – er hatte ihr ausdrücklich gesagt, daß er um sieben immer weggehen würde, weil ihn das Warten so nervös machte. Und doch blieb er immer länger zu Hause, und erst um acht pflegte er auf die Straße hinunterzugehen. – Dann dachte er schaudernd an die verflossenen Stunden und erinnerte sich mit Wehmut des vorigen Sommers, da er seine ganze Zeit für sich gehabt, an schönen Nachmittagen oft aufs Land gefahren, im August schon ins Seebad gereist, und gesund und glücklich gewesen war; – und ersehnte sich nach Freiheit, nach Reisen, nach der Ferne, nach dem Alleinsein, aber er konnte nicht weg von ihr; denn er betete sie an.

  • Man merkt hier deutlich, dass der Liebhaber weder entspannt mit der Situation umgehen kann.
  • Noch entspricht die Beziehung in dieser Form seinen eigentlichen Bedürfnissen.
  • Da sollte man sich das Zitat genauer anschauen:
    • „schaudernd“
    • „erinnerte sich mit Wehmut des vorigen Sommers, da er seine ganze Zeit für sich gehabt, […] gesund und glücklich gewesen war;“
    • „– und ersehnte sich nach Freiheit, [… ]nach dem Alleinsein,“
    • „aber er konnte nicht weg von ihr; denn er betete sie an.“
  • Kommentar: Es scheint sich um eine seltsame Art von Zwangsbeziehung zu handeln. Die Seligkeit ist nur behauptet worden – real sind hier die Gegenargumente auf der Seite des Mannes.
  • Bei der Frau zählt, dass sie immer wieder in eine unwürdige Hektik gerät – außerdem erfährt man nichts über ihr angebliches Glück mit diesem Mann. Der scheint von ihr nicht einmal zu träumen, sondern nur fixiert zu sein auf diese Besuche. Man kann nur ahnen, dass Wesentliches hinter der verschlossenen Tür geschieht und in der Novelle nur angedeutet wird.
Aktuelle Situation – Ungewissheit und keine Alternative als Warten

Heute schien ihm der ärgste von allen Tagen. Gestern war sie gar nicht gekommen, und er hatte auch keinerlei Nachricht von ihr erhalten. – Es war bald sieben; aber er wurde heute nicht ruhiger. Er wußte nicht, was er beginnen sollte. Das Entsetzliche war, daß er keinen Weg zu ihr hatte. Er konnte nichts anderes tun, als vor ihr Haus gehen und ein paarmal vor den Fenstern auf und ab spazieren; aber er durfte nicht zu ihr, durfte niemand zu ihr schicken, konnte sich bei niemandem nach ihr erkundigen. Denn kein Mensch ahnte nur, daß sie einander kannten. Sie lebten in einer ruhelosen, angstvollen und glühenden Zärtlichkeit hin und hätten gefürchtet, sich vor anderen jeden Augenblick zu verraten. Er fand es wohl schön, daß ihr Verhältnis in tiefster Verborgenheit fortdauerte; aber solche Tage, wie der heutige, waren um so qualvoller.

  • Aktuell ist die Situation also besonders schlimm – gestern nicht gekommen – dazu keine Nachricht.
  • Der Mann weiß nicht, was er tun kann – es gibt keine Alternative zu den Besuchen.
  • Hervorgehoben wird die Heimlichkeit, die sie beachten müssen.
  • Wichtig ist das folgende Zitat:
    „Sie lebten in einer ruhelosen, angstvollen und glühenden Zärtlichkeit hin und hätten gefürchtet, sich vor anderen jeden Augenblick zu verraten. Er fand es wohl schön, daß ihr Verhältnis in tiefster Verborgenheit fortdauerte; aber solche Tage, wie der heutige, waren um so qualvoller.“
  • Es macht deutlich, welche widerstreitenden Gefühle mit dieser Beziehung verbunden sind.
  • Anmerkung: Das kennt wohl jeder aus bestimmten Verliebtheitsphasen.
  • Bei dem Mann wird eine differenzierte Betrachtung deutlich.
Zwischen Peinlichkeit und Hoffnungsträumen

Es war acht Uhr geworden – sie war nicht gekommen. Die letzte Stunde war er ununterbrochen an der Türe gestanden und hatte durchs Guckfensterchen auf den Gang hinausgeschaut. Eben waren die Gasflammen auf der Stiege angezündet worden. Jetzt ging er in sein Zimmer zurück, und todmüde warf er sich auf den Divan. Es war ganz dunkel im Zimmer, er schlummerte ein. Nach einer halben Stunde erhob er sich und entschloß sich, fortzugehen. Er hatte Kopfschmerzen, und die Beine taten ihm weh, als wäre er stundenlang herumgelaufen.

  • Hier wird deutlich, wie unangenehm die Situation für den Mann ist.

Er nahm den Weg zu ihrem Hause. Es war ihm wie eine Beruhigung, als er die Rouleaus in allen Fenstern heruntergelassen sah. Durch die des Speisezimmers und die des Schlafzimmers schimmerte ein Lichtschein. – Er spazierte ein halbe Stunde auf dem gegenüberliegenden Trottoir hin und her, immer den Blick auf die Fenster geheftet. Die Straße war wenig belebt. Erst als sich einige Stubenmädchen und die Hausmeisterin vor dem Tore zeigten, entfernte er sich, um nicht aufzufallen. In dieser Nacht schlief er fest und gut.

  • Das setzt sich hier auf eine fast demütigende Weise fort.

Am nächsten Vormittag blieb er lange im Bette liegend,er hatte einen Zettel ins Vorzimmer gelegt, man dürfe ihn nicht wecken. Um zehn Uhr klingelte er. Der Diener brachte ihm das Frühstück; auf der Untertasse lag die eingelaufene Post; von ihr war kein Brief da. Aber er sagte sich gleich, daß sie nun um so sicherer selber am Nachmittag bei ihm sein werde, und so verbrachte er die Zeit bis drei Uhr ziemlich ruhig.

  • Die Warterei geht weiter.
  • Interessant ist, dass er sich hier plötzlich Hoffnungen macht, die auf wenig Rationalität beruhen.
Zwischen Verzweiflung und Infragestellung

Punkt drei, aber auch nicht eine Minute früher, kam er vom Mittagessen nach Hause. Er setzte sich auf einen Sessel im Vorzimmer, um nicht immer hin- und herlaufen zu müssen, wenn er ein Geräusch im Stiegenhaus vernahm. Aber er war ganz froh, wenn er nur überhaupt Schritte in der Flur unten hörte; es war doch immer wieder eine neue Hoffnung. Doch jede war vergebens. Es wurde vier – fünf – sechs – sieben – sie kam nicht. Dann lief er in seinem Zimmer hin und her und stöhnte leise, und als ihm schwindlig wurde, warf er sich aufs Bett. Er war völlig verzweifelt; das war nicht mehr zu ertragen – das beste: fort, fort – dieses Glück war doch zu teuer bezahlt! … Oder er mußte wieder eine Änderung treffen – z.B. nur eine Stunde warten – oder zwei – aber so konnte das nicht weiter gehen, da mußte alles in ihm zu Grunde gerichtet werden, die Arbeitskraft, die Gesundheit, schließlich auch die Liebe. Er merkte, daß er an sie überhaupt gar nicht mehr dachte; seine Gedanken wirbelten wie in einem wüsten Traum.

  • Hier wieder Warterei, die in Verzweiflung endet.
  • Es geht so weit, dass er glaubt, dass dieses Glück zu teuer bezahlt ist.
  • Interessant auch, dass der Niedergang auch die Liebe betreffen kann.
  • Man merkt hier, dass es sich hier kaum um echte Liebe handelt, sondern nur eine seltsame, nicht näher geklärte Leidenschaft.
Seltsame Beschränkungen seines zeitlichen Engagements 

Er sprang vom Bett herunter. Er riß das Fenster auf, sah auf die Straße hinab, in die Dämmerung …. Ah … da … dort an der Ecke … in jeder Frau glaubte er sie zu erkennen. Er entfernte sich wieder vom Fenster; sie durfte ja nicht mehr kommen; die Zeit war ja überschritten. Und plötzlich kam es ihm unerhört albern vor, daß er nur diese wenigen Stunden zum Warten bestimmt hatte. Vielleicht hätte sie gerade jetzt Gelegenheit gehabt …. vielleicht wäre es ihr heute vormittags möglich gewesen, zu ihm zu kommen – und schon hatte er auf den Lippen, was er nächstens sagen wollte, und flüsterte es vor sich hin: »Den ganzen Tag werde ich von jetzt an zu Hause sein und dich erwarten; von früh bis in die Nacht.« Aber wie er es ausgesprochen, begann er selbst zu lachen, und dann flüsterte er vor sich hin: »Aber ich werde ja toll, toll, toll!« –

  • Interessant, dass ein Teil der Zeitprobleme anscheinend auch vom Mann ausgeht.
  • Das wird aber nicht näher erklärt.
  • In der Fantasie will er diese Beschränkungen aufheben.
  • Auffallend ist, dass er darüber lachen muss und es für verrückt hält.
  • Ein weiterer Punkt, der diese Leidenschaft wohl von Liebe entfernt.
Zwischen 

Wieder stürzte er zu ihrem Hause. – Es war alles wie gestern. Lichter schimmerten durch die geschlossenen Rouleaus. Wieder spazierte er eine halbe Stunde auf dem gegenüberliegenden Trottoir hin und her – wieder entfernte er sich, als die Hausmeisterin und einige Dienstmädchen aus dem Tore traten. Es kam ihm heute vor, als sähen ihn die an, und er war überzeugt, daß sie sich über ihn unterhielten und sagten: Das ist derselbe Herr, der gestern hier um dieselbe Zeit auf und ab gegangen ist. Er spazierte in nahen Gassen umher, aber als es von den Türmen zehn Uhr schlug und die Tore geschlossen wurden, kam er wieder und starrte zu den Fenstern hinauf. Nur durch das letzte, wo das Schlafzimmer lag, schimmerte ein Lichtstrahl. Er sah hin wie gebannt. – Nun stand er hilflos da und konnte nichts tun und nicht fragen. – Ihn schauderte vor den Stunden, die ihm bevorstanden. Eine Nacht, ein Morgen, ein Tag bis drei Uhr. – Ja, bis drei – und dann … wenn sie wieder nicht käme? … Ein leerer Wagen fuhr vorbei, er winkte dem Kutscher und ließ sich in den nächtlichen Straßen langsam hin- und herfahren ….

  • Die Situation spitzt sich zu, weil er ggf. jetzt mit seinem seltsamen Verhalten aufgefallen ist.
  • Wichtig sind die Hinweise auf „gebannt“ und „hilflos“ und die Wiederholung des Schauders – all das sieht nach einer ungesunden Situation aus.
  • Kommentar: Man kann darüber diskutieren, welche Alternativen dieser Mann haben könnte.
Zwischen 

Er erinnerte sich des letzten Zusammenseins mit ihr … nein, nein, sie hatte nie aufgehört, ihn zu lieben – nein, das gewiß nicht! – Oder sollte man bei ihr zu Hause einen Verdacht gefaßt haben? … Nein, das war ja nicht möglich … es war bisher auch nicht eine Spur davon aufgetaucht – und sie war ja so vorsichtig. – Es konnte also nur einen Grund geben: sie war leidend und lag zu Bette. Und deswegen konnte sie auch keine Nachricht an ihn gelangen lassen … Und morgen würde sie aufstehen und vor allem anderen ein paar Zeilen an ihn senden, ihn zu beruhigen …. Ja, wenn sie aber erst in zwei Tagen oder noch später das Bett verlassen konnte … wenn sie ernstlich krank … um Himmels willen … wenn sie schwer krank wäre … Nein, nein, nein … warum denn gleich schwer krank! …

  • Am Anfang wieder eine Liebesbeteuerung, die nicht näher begründet wird.
  • Dann die Flucht in die Idee einer Krankheit als Verhinderungsgrund.
Glücklicher Einfall?

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm ein erlösender erschien. Da sie ganz sicher krank war, konnte er ja morgen zu ihr hinaufschicken und nach ihrem Befinden fragen lassen. Der Bote brauchte ja selbst nicht zu wissen, von wem er den Auftrag hatte – er konnte den Namen schlecht verstanden haben … Ja, ja, so sollte es geschehen! – Er war ganz glücklich, daß ihm dieser Einfall gekommen war.

  • Daraus wird eine neue Idee, nämlich jemanden nachfragen zu lassen.
Zusammenfassung:
  1. Insgesamt eine seltsame, quälende, vor allem einseitige Beziehung.
  2. Interessant, dass die problematischen Einschränkungen anscheinend auch vom Mann ausgehen.
  3. Überhaupt wird hier nichts wirklich sachlich geklärt.
  4. Es scheint in dieser Geschichte nur um einen Einblick in die innere Lage eines Menschen zu gehen. Der denkt natürlich nicht daran, über Hintergründe zu informieren, denn er kennt sie ja.
  5. Wichtig ist, dass dieser Mann einem Bann unterliegt, der ihn zwingt, gegen seine eigentlichen Wünsche zu handeln.
  6. Was er dafür bekommt, wird nur angedeutet, aber in keiner Weise veranschaulicht. Wenn es um reinen Sex gehen sollte, könnte man das um 1900 sicher zumindest andeuten.
Betrachtung als Kurzgeschichte – offenes Ende

Wenn man diesen Ausschnitt für sich nimmt, wie er wohl Basis für eine schriftliche Abiturprüfung war, dann ergeben sich folgende Überlegungen:

  • das Problem kann tatsächlich einfach zumindest teilweise aufgelöst werden – nämlich durch die Nachricht von einer Krankheit, die die Rückkehr zum alten Leben ermöglicht.
  • Das ist natürlich keine gute Lösung, denn die hier deutlich geschilderten Probleme setzen sich fort – ein falsches Leben mit nur behaupteter Seligkeit.
  • Es gibt nichts, was eine bessere Lösung motivieren (begründen) könnte, nämlich tatsächlich ein „Abschied“ von Seiten des Mannes, der zu seinem echten Leben übergehen will.
  • Oder aber die Entscheidung der Frau, mit diesem Mann mitzugehen.
  • Von daher also wenig geeignet für eine Kurzgeschichte und auch nicht unbedingt für eine Abiturprüfung, weil die Ausgangspunkte fehlen, von denen aus man einen Wendepunkt mit entsprechenden weiteren Entwicklungen konstruieren könnte.
Ausblick auf den weiteren Verlauf

Wenn man die Novelle weiterliest, ist Folgendes wichtig:

  1. Die Quälerei setzt sich fort,
  2. wählt nur eben den angedeuteten Weg über einen Mittelsmann.
  3. Die Frau ist wirklich krank und das wird immer schlimmer, so dass der Tod wahrscheinlich wird.
  4. Der Mann traut sich erst ins Haus dieser Frau, als ihm ihr Tod mitgeteilt wird.
  5. Im Zimmer, in dem die Tote liegt, gibt es dann einen interessanten Schluss, auf den man hier noch genauer eingehen muss.
Analyse des Schlusses

Die Fensterläden waren geschlossen; eine Ampel brannte. Auf dem Bette lag die Tote ausgestreckt. Die Decke war bis zu ihren Lippen hingebreitet; zu ihren Häupten auf dem Nachtkästchen brannte eine Kerze, deren Licht grell auf das aschgraue Antlitz fiel. Er hätte sie nicht erkannt, wenn er nicht gewußt hätte, daß sie es war. Erst allmählich ging ihm die Ähnlichkeit auf – erst allmählich wurde es Anna, seine Anna, die da lag, und das erstemal seit dem Beginne dieser entsetzlichen Tage fühlte er Tränen in seine Augen kommen. Ein heißer, brennender Schmerz lag ihm auf der Brust, er hätte aufschreien mögen, vor sie hinsinken, ihre Hände küssen …

  • Das sieht hier schon nach Liebe bzw. Verlustgefühl aus.

Jetzt erst merkte er, daß er nicht allein mit ihr war. Jemand kniete zu Füßen des Bettes, hatte den Kopf in der Decke vergraben und hielt die eine Hand der Toten in seinen beiden Händen fest. In dem Momente, da Albert eben einen Schritt näher zu treten versucht war, hob jener den Kopf. Was werde ich ihm denn sagen? – Aber schon fühlte er von dem Knienden seine rechte Hand ergriffen und gedrückt und hörte ihn mit tränenerstickter Stimme flüstern: Dank, Dank. – Und dann wandte sich der Weinende wieder weg, ließ den Kopf niedersinken und schluchzte leise in die Decke.

  • Etwas seltsam, am nächstliegenden ist, dass dieser Mann der Ehemann ist und nicht weiß, wer ihm da scheinbar sein Beileid ausdrückt.

Albert blieb noch eine Weile stehen und betrachtete das Gesicht der Toten mit einer Art von kalter Aufmerksamkeit. Die Tränen waren ihm wieder ganz ausgeblieben. Sein Schmerz wurde plötzlich ganz dürr und wesenlos. Er wußte, daß ihm diese Begegnung später einmal schauerlich und komisch zugleich vorkommen würde. Er wäre sich sehr lächerlich erschienen, hätte er mit diesem da zusammen geschluchzt.

  • Hier wieder die Grenzen dieser Liebe.
  • Offensichtlich hat dieser Mann die heimlichen Treffen mehr geliebt als die Frau selbst.
  • Auch das erinnert an Werther, dem Lotte ja mal sagt sinngemäß: Du liebst mich nur, weil du mich nicht bekommen kannst.

Er wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er noch einmal stehen und schaute zurück. Das Flimmern der Kerze machte, daß er ein Lächeln um Annas Lippen zu sehen glaubte. Er nickte ihr zu, als nähme er Abschied von ihr und sie könnte es sehen. Jetzt wollte er gehen, aber nun war es ihm, als hielte sie ihn mit diesem Lächeln fest. Und es wurde mit einemmal ein verächtliches, fremdes Lächeln, das zu ihm zu reden schien, und er konnte es verstehen. Und das Lächeln sagte: Ich habe dich geliebt, und nun stehst du da wie ein Fremder und verleugnest mich. Sag‘ ihm doch, daß ich die Deine war, daß es dein Recht ist, vor diesem Bette niederzuknien und meine Hände zu küssen. – Sag‘ es ihm! Warum sagst du’s ihm denn nicht?

  • Hier wird die Kritik an diesem Mann deutlich.
  • Natürlich kommt das Lächeln nicht von der toten Frau,
  • sondern der Eindruck ist Ausfluss seines Schuldgefühls, das sich hier so ausdrückt.
  • Da es vom Mann kommt, weiß man nicht, ob die Frau wirklich so gedacht hat.

Aber er wagte es nicht. Er hielt die Hand vor die Augen, um ihr Lächeln nicht mehr zu sehen … Auf den Fußspitzen drehte er sich um, verließ das Zimmer und schloß die Türe hinter sich. Er ging schaudernd durch den lichten Salon, drückte sich dann in dem halbdunklen Zimmer an allen den Leuten vorbei, die miteinander flüsterten und unter denen er nicht bleiben durfte; dann eilte er durchs Vorzimmer und über die Treppe hinab, und wie er zum Tor hinaus war, schlich er sich an der Mauer des Hauses weiter, und sein Schritt wurde immer schneller, und es trieb ihn aus der Nähe des Hauses, und er eilte tief beschämt durch die Straßen; denn ihm war, als dürfe er nicht trauern wie die anderen, als hätte ihn seine tote Geliebte davongejagt, weil er sie verleugnet.

  • Am Ende bleiben nur zwei Eindrücke:
  • Keine wirkliche Liebe zu der Frau
  • und die indirekte Erkenntnis durch die Einsicht, dass er sich nicht zu ihr bekannt hat – und zu einer Liebe, die anscheinend keine wirklich war.
Vergleichsmöglichkeit:

Man kann diese Novelle gut mit dem Roman „Die Leiden des jungen Werther“ vergleichen, denn auch dort liebt jemand einen anderen Menschen, ohne wirklich Rücksicht auf ihn zu nehmen. In beiden Fällen geht es bezeichnenderweise nur um eine Innenperspektive – alles wird von einer Figur wahrgenommen. Man erfährt also nur indirekt etwas über den anderen Menschen.

Hier sei zum Schluss noch einmal der besondere Vergleichspunkt hervorgehoben: Sowohl Werther als auch dieser Albert lieben vorwiegend sich selbst und das Besondere der Situation. Sie sind nicht bereit und in der Lage, einen Interessenausgleich auf der Basis gemeinsamer und vor allem gegenseitiger Liebe herzustellen – denn die ist eben nicht gegeben. Aufgelöst werden beide ins Krankhafte gehende Situationen jeweils durch den Tod – einmal durch den Selbstmord Werthers, zum anderen durch den Krankheitstod der Geliebten Alberts.

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