Szenenanalyse am Beispiel von Nathan III,4

Worum es hier geht:

Wir zeigen hier, wie man eine Dramenszene analysiert.

Das Gute daran ist, dass diese Szene ziemlich isoliert behandelt werden kann. Man muss nur wissen, dass das Drama „Nathan der Weise“ in der Zeit der Kreuzzüge spielt. Der muslimische Sultan braucht Geld vom reichen Juden Nathan.

Und in der Szene berät er mit seiner Schwester Sittha, wie man am besten mit dem jüdischen Geschäftsmann umgeht.

Im Folgenden haben wir die Szene einfach mal durchnummeriert, wie sie auf einer Internet-Seite präsentiert wird:

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 270-272.
Einleitung:
  • Bei dem Textausschnitt handelt es sich um die 4. Szene des III. Aktes aus Lessings Theaterstück „Nathan der Weise“.
  • In ihr diskutieren der Sultan Saladin und seine Schwester, wie sie am besten den Reichtum des reichen Juden Nathan für die eigene Kasse nutzen können.
  • Der Sultan braucht nämlich in der Zeit der Kreuzzüge Geld für den Krieg.
  • Als Thema könnte man formulieren:
    Es geht um die Frage, wie man mit dem reichen Handelsherrn Nathan umgehen soll, um an sein Geld zu kommen.
Ausgangslage des dramatischen Konflikts:
  • Um die Szene zu verstehen, muss man wissen:
    • Sie spielt in der Zeit der Kreuzzüge.
    • Zwar herrscht aktuell Waffenstillstand zwischen den christlichen Kreuzrittern und den Muslimen, für die in diesem Theaterstück Sultan Saladin steht.
    • Aber er braucht Geld, vor allem weil er auch ziemlich freigebig ist.
  • Sittah, die Schwester des Sultans, ist auf die Idee gekommen, dass man das nötige Geld vom reichen jüdischen Handelsherrn Nathan bekommen könne.
  • Jetzt geht es darum, wie man bei einem anstehenden Gespräch am besten zu diesem Ziel kommt.
Entwicklung des dramatischen Konflikts:
  1. Am Anfang ist der Sultan ungehalten, weil Nathan noch nicht da ist (4/5). Seine Schwester beruhigt ihn aber mit dem Hinweis, dass er vielleicht „nicht gleich zu finden“  (7/8) gewesen sei.
  2. Ab Zeile 10 wird deutlich, dass der Sultan ziemlich aufgeregt ist, seine Schwester vergleicht sein Verhalten mit dem vor einem „Treffen“, also einer Schlacht. Daraufhin macht ihr Bruder ihr ab 15 klar, dass es hier gerade nicht um eine Schlacht geht, sondern um einen anderen Kampf, bei dem man jemanden auf „Glatteis“ (18) führen soll. Er hält anscheinend solche „kleinen Listen“ (23) für unter seiner Würde.
  3. Das kontert seine Schwester mit dem Hinweis, dass auch eine „Kleinigkeit“, die man „verschmäht“ hat, also verachtet hat, sich rächen könne.
  4. Der Sultan stimmt dem in Zeile 30 zu und wechselt dann vom reichen Juden zum guten, vernünftigen, wie er ihm vorher vom Kurzzeitfinanzminister, dem Derwisch, beschrieben worden ist. Das versucht Sittah aus dem Weg zu räumen, indem sie einen Unterschied macht zwischen dem „geizigen“ (37)  Juden, den man anscheinend wohl geschickt ausnehmen kann, und dem „weisen“ (39). Sittah sieht hier sogar ein „Vergnügen“ voraus, wenn man sieht, wie Nathan sich „ausredt“ (41) oder sogar die „Stricke kurz zerreißet“ (43).
  5. Ab 51 legt Sittah noch mal nach, indem sie für sie ist Nathan „einer aus der Menge bloß“ (53). demgegenüber der Sultan sich nicht „schämen“ (55) müsse.
  6. Saladin erklärt sich widerwillig einverstanden und macht der Schwester das halbe Kompliment, dass sie als Frau eben alles „zu beschönen wüsste“ (also die schönen Aspekte hervorheben, die anderen runterspielen).
  7. Die einzige Sorge, die Saladin dann noch hat, ist, dass dieses von seiner Schwester so „feine, spitze Ding“ (72) in seiner „plumpen Hand“ (73) zerbricht. Damit verweist er noch einmal auf die Fähigkeiten, die er hat, zum Beispiel Krieg zu führen, und das, was ihm nicht so liegt, nämlich solche geschickt angelegten Tricks, die Sittah im Sinn hat. Seine Schluss-Einstellung macht er in einem Bild deutlich: „Ich tanze, wie ich kann“, möchte es aber eigentlich lieber „schlechter noch / Als besser“ können. (77/78).
  8. Die Schwester zeigt dafür Verständnis, indem sie ihren Bruder mit einem Löwen vergleicht, der sich hat nicht gerne auf die „List“ (86) eines Fuchses herablässt. Saladin verteidigt noch ein bisschen seine Ehre als Mann, den die Frauen angeblich „Zu sich herunter hätten“ (89) und will sie dann vor allem loswerden.
  9. Als kleine Rache erlaubt er Sittah nicht bei dem Gespräch dabei zu sein, sie darf nicht mal „im Nebenzimmer“ lauschen.
  10. Damit bringt er sie um die am Anfang von ihr angesprochene Chance auf das „Vergnügen“ (40), das für sie mit diesem Kommunikations-Tanz verbunden ist.
Auswertung / Aussagen der Szene / Intentionalität

Die Szene zeigt

  1. wie ungern der Sultan dem reichen Juden mit irgendwelchen Tricks sein Geld abnehmen will,
  2. wie gut Sittah es versteht, ihren Bruder in ihrem Sinne zu lenken,
  3. indem sie
    1. zwischen dem „reichen“ und dem „weisen“ Nathan unterscheidet und das „Vergnügen“ hervorhebt, das man bei einer geistvollen Auseinandersetzung haben kann
    2. auf die Notwendigkeit verweist, sich als Herrscher auch mal auf solche kleinen Dinge einzulassen,
    3. sich dabei aber seiner Überlegenheit durch Macht bewusst zu bleiben.
  4. wie der Sultan geschickt am Ende für sich eine Lösung findet, indem er
    1. bereit ist zu diesem „Tanz“, auch wenn er es ungern tut,
    2. schließlich seine Schwester deutlich auf den Platz unter ihm verweist und sie mehr oder weniger rauswirft, wenn auch nett formuliert.
Sprachliche und rhetorische Mittel
  • Gleich am Anfang wird durch den Vergleich mit einem „Treffen“, also einer Schlacht deutlich gemacht, was für den Herrscher bei dem bevorstehenden Gespräch anders ist und ihm Kopfzerbrechen bereitet.
  • In ausdrucksstarken Bildern wird deutlich gemacht, worauf es jetzt ankommt („Fallen legen“, „auf Glatteis führen“, „Geld zu fischen“).
  • Geschickt kontert die Schwester in einer Art Sentenz (Lebensweisheit): „Jede Kleinigkeit, zu sehr /Verschmäht, die rächt sich.“
  • Bei der Unterscheidung zwischen dem reichen und dem weisen Nathan wird dann wieder in Bildern gesprochen: Es ist von einer „Schlinge“ die Rede, Sittah stellt sich „Stricke“ vor, die der kluge Mann „kurz zerreißet“ – oder freut sich drauf zu sehen, „mit welcher schlauen Vorsicht er die Netze /Vorbei sich windet.“
  • Der Sultan spielt in seiner Antwort mit Sprache: „So muss ich ja wohl gar / Schlecht handeln, dass von mir der Schlechte nicht / Schlecht denke?“
  • Was ihm als Sorge bleibt, macht er in einem bildhaften Gegensatz deutlich: Er befürchtet, dass das „feine, spitze Ding“ (das seiner Schwester vorschwebt), in seiner „plumpen Hand zerbricht“.
  • Am Ende steht das Bild des Tanzes, das der Sultan noch mal mit seiner inneren Zerrissenheit verbindet: „Ich tanze, wie ich kann; / Und könnt‘ es freilich, lieber – schlechter noch / Als besser“.
  • Am Ende dann die Zusammenfassung Sittahs, mit der sie ihrem Bruder eine Brücke zu seiner Ehre als Herrscher baut: Sie vergleicht Saladin mit einem Löwen, der lieber seine Stärke ausspielt als sich der List des Fuchses zu bedienen.
  • Das nimmt Saladin am Ende dankbar an, aber nicht ohne – typisch für frühere Vorstellungen – auf die Höhe des Mannes gegenüber den Frauen zu verweisen, von der sie ihn angeblich herabziehen wollen.
  • Am Ende steht etwas zwischen Gereiztheit und Befehl: „Geh, nur geh!“ und die Verweigerung jeder Art von Teilnahme an dem Gespräch und damit an Sittahs erhofftem „Vergnügen“.
Schluss-Situation und Ausblick
  • Am Ende hat sich der Sultan gewissermaßen breitschlagen oder breitreden lassen und ist widerwillig bereit, sich auch mal auf die Ebene der List hinab zu begeben.
  • Als Zuschauer oder Leser ist man jetzt gespannt, wie groß das „Vergnügen“ in dem kommenden Gespräch sein wird
  • und wie Nathan mit der „Schlinge“ umgeht
  • und wie der Sultan darauf reagiert.
Vorarbeit: Genauere Untersuchung der Szene 
  1. Szene: ein Audienzsaal in dem Palaste des Saladin.
  2. Saladin und Sittah.
  3. SALADIN im Hereintreten, gegen die Türe.
  4. Hier bringt den Juden her, so bald er kömmt.
  5. Er scheint sich eben nicht zu übereilen.
  6. SITTAH.
  7. Er war auch wohl nicht bei der Hand; nicht gleich
  8. Zu finden.
  9. SALADIN.
  10. Schwester! Schwester!
  11. SITTAH.
  12. Tust du doch
  13. Als stünde dir ein Treffen vor.
    • Der Sultan scheint aufgeregt zu sein.
  14. SALADIN.
  15. Und das
  16. Mit Waffen, die ich nicht gelernt zu führen.
  17. Ich soll mich stellen; soll besorgen lassen;
  18. Soll Fallen legen; soll auf Glatteis führen.
  19. Wenn hätt‘ ich das gekonnt? Wo hätt‘ ich das
  20. Gelernt? – Und soll das alles, ah, wozu?
  21. Wozu? – Um Geld zu fischen; Geld! – Um Geld,
  22. Geld einem Juden abzubangen; Geld!
  23. Zu solchen kleinen Listen wär‘ ich endlich
  24. Gebracht, der Kleinigkeiten kleinste mir
  25. Zu schaffen?
    • Der Sultan jammert rum, dass er so was nicht gewöhnt ist, gewissermaßen Leute auszutricksen.
  26. SITTAH.
  27. Jede Kleinigkeit, zu sehr
  28. Verschmäht, die rächt sich, Bruder.
      • Sittah macht ihm klar, dass so etwas auch zu seinen Herrscherpflichten gehört.
  29. SALADIN.
  30. Leider wahr. –
  31. Und wenn nun dieser Jude gar der gute,
  32. Vernünftge Mann ist, wie der Derwisch dir
  33. Ihn ehedem beschrieben?
    • Neuer Aspekt: Nathan ist nicht nur reich, sondern auch ein guter Mann.
    • Da hat man „Beißhemmung“.
  34. SITTAH.
  35. O nun dann!
  36. Was hat es dann für Not! Die Schlinge liegt
  37. Ja nur dem geizigen, besorglichen,
  38. Furchtsamen Juden: nicht dem guten, nicht
  39. Dem weisen Manne. Dieser ist ja so
  40. Schon unser, ohne Schlinge. Das Vergnügen
  41. Zu hören, wie ein solcher Mann sich ausredt
  42. Mit welcher dreisten Stärk‘ entweder, er
  43. Die Stricke kurz zerreißet; oder auch
  44. Mit welcher schlauen Vorsicht er die Netze
  45. Vorbei sich windet: dies Vergnügen hast
  46. Du obendrein.
    • Sittah beruhigt den Bruder: Du sollst ja nur den Reichen austricksen.
    • Mit dem Weisen gehen wir anders um.
    • Dahinter steckt der Plan von Sittah, dem weisen Nathan eine Falle zu stellen.
    • Plan ist nämlich, den Juden zu fragen, welche Religion die beste ist.
    • Dann ist er in Schwierigkeiten und stellt uns gerne mit Geld zufrieden.
  47. SALADIN.
  48. Nun, das ist wahr. Gewiß;
  49. Ich freue mich darauf.
    • Sultan ist beruhigt und freut sich sogar auf den 2. Teil.
  50. SITTAH.
  51. So kann dich ja
  52. Auch weiter nichts verlegen machen. Denn
  53. Ists einer aus der Menge bloß; ists bloß
  54. Ein Jude, wie ein Jude: gegen den
  55. Wirst du dich doch nicht schämen, so zu scheinen
  56. Wie er die Menschen all sich denkt? Vielmehr;
  57. Wer sich ihm besser zeigt, der zeigt sich ihm
  58. Als Geck, als Narr.
    • Sittah macht ihrem Bruder klar, das ist nur ein Jude – und die waren damals nicht gleichberechtigt.
  59. SALADIN.
  60. So muß ich ja wohl gar
  61. Schlecht handeln, daß von mir der Schlechte nicht
  62. Schlecht denke?
  63. SITTAH.
  64. Traun! wenn du schlecht handeln nennst,
  65. Ein jedes Ding nach seiner Art zu brauchen.
  66. SALADIN.
  67. Was hätt‘ ein Weiberkopf erdacht, das er
  68. Nicht zu beschönen wüßte!
  69. SITTAH.
  70. Zu beschönen!
    • Saladin bewundert, was seine schlaue Schwester alles so an Ideen hat.
  71. SALADIN.
  72. Das feine, spitze Ding, besorg ich nur,
  73. In meiner plumpen Hand zerbricht! – So was
  74. Will ausgeführt sein, wies erfunden ist:
  75. Mit aller Pfiffigkeit, Gewandtheit. – Doch,
  76. Mags doch nur, mags! Ich tanze, wie ich kann;
  77. Und könnt‘ es freilich, lieber – schlechter noch
  78. Als besser.
    • Saladin hat ein bisschen Sorge, weil er solche Tricksereien nicht gut beherrscht.
    • Aber er will es machen und nennt das „Tanzen“.
  79. SITTAH.
  80. Trau dir auch nur nicht zu wenig!
  81. Ich stehe dir für dich! Wenn du nur willst. –
  82. Daß uns die Männer deines gleichen doch
  83. So gern bereden möchten, nur ihr Schwert,
  84. Ihr Schwert nur habe sie so weit gebracht.
  85. Der Löwe schämt sich freilich, wenn er mit
  86. Dem Fuchse jagt; – des Fuchses, nicht der List.
    • Sittah geht auf ihn ein und sagt, das ist ganz normal, dass der starke Löwe sich nicht gerne so verhält wie ein listiger Fuchs.
  87. SALADIN.
  88. Und daß die Weiber doch so gern den Mann.
  89. Zu sich herunter hätten! – Geh nur, geh! –
  90. Ich glaube meine Lektion zu können.
    • Saladin versucht, seine männliche Ehre zu retten
    • und will seine Schwester los werden.
  91. SITTAH.
  92. Was? ich soll gehn?
  93. SALADIN.
  94. Du wolltest doch nicht bleiben?
  95. SITTAH.
  96. Wenn auch nicht bleiben … im Gesicht euch bleiben –
  97. Doch hier im Nebenzimmer –
  98. SALADIN.
  99. Da zu horchen?
  100. Auch das nicht, Schwester; wenn ich soll bestehn. –
    • Schwester möchte gerne dabei sein
    • oder zumindest hinter dem Vorhang lauschen.
    • Saladin scheucht sie raus.
  101. Fort, fort! der Vorhang rauscht; er kömmt! – doch daß
  102. Du ja nicht da verweilst! Ich sehe nach.
  103. Indem sie sich durch die eine Türe entfernt, tritt Nathan zu der andern herein; und Saladin hat sich gesetzt.
Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 270-272.

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