Szenenanalyse zu Peter Weiss: ‚Die Ermittlung‘ – Beispiel ‚Gesang vom Ende der Lili Tofler‘

Worum es hier geht:

Diese Beispielanalyse soll Schüler*innen helfen, den Zugang zu Peter Weiss’ dokumentarischem Drama „Die Ermittlung“ zu finden. Grundlage ist der Ausschnitt aus dem fünften Gesang („Gesang vom Ende der Lili Tofler“).

1. Kontext und Grundkonflikt

Das Drama „Die Ermittlung“ (1965) behandelt die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main. Peter Weiss zeigt keine fiktionalen Figuren, sondern verarbeitet authentische Aussagen aus den Gerichtsprotokollen. Das Stück ist in elf sogenannte Gesänge gegliedert – in Anlehnung an antike Tragödien. Im fünften Gesang geht es um das Schicksal der Häftlingsfrau Lili Tofler, die wegen eines Briefs an einen Mitgefangenen gefoltert und getötet wurde. Der zentrale Konflikt besteht zwischen Menschlichkeit und dem System der entmenschlichten Gewalt.

2. Figuren und Konstellation

Die Figuren treten nicht als individuelle Charaktere, sondern als Typen auf: Richter, Zeugen, Angeklagte, Verteidiger. Dadurch wird die persönliche Dimension zugunsten der allgemeinen Aussage zurückgenommen. Im vorliegenden Ausschnitt stehen sich drei Gruppen gegenüber:
– Die Zeuginnen, die als Überlebende berichten und durch ihre Aussagen das Grauen bezeugen.
– Die Angeklagten (z. B. Boger), die versuchen, ihre Schuld zu leugnen oder zu relativieren.
– Der Richter und die Verteidigung, die das Geschehen formal zu ordnen versuchen.
Diese Konstellation verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen der Wahrheit der Opfer und der Verdrängung der Täter.

3. Darstellung von Tätern und Opfern

Die Täter – wie Boger – erscheinen sprachlich distanziert, kalt und rational. Ihre Aussagen sind knapp, rechtfertigend und formal. Opfer und Zeug*innen dagegen sprechen einfach, aber emotional aufgeladen; ihre Sprache enthält viele Beobachtungen, Wiederholungen und schlichte Beschreibungen, die gerade durch ihre Nüchternheit erschüttern. Peter Weiss vermeidet Pathos – das Grauen wirkt durch die Sachlichkeit.

Die Reaktionen (Schweigen, Schreien, Weinen) sind wesentlicher Teil der Darstellung: Sie zeigen, wie unterschiedlich Menschen auf das Unmenschliche reagieren. Das Schweigen kann Ausdruck von Scham, Ohnmacht oder Widerstand sein – das Schreien dagegen ein Moment der letzten Menschlichkeit.

4. Sprachliche Gestaltung und Wirkung

Weiss verwendet eine karge, protokollhafte Sprache. Es gibt keine Regieanweisungen, keine psychologische Charakterzeichnung. Das Stück wirkt dadurch wie ein kollektives Tribunal. Die Reduktion auf Aussagen und Fragen zwingt das Publikum, sich selbst ein Urteil zu bilden. Im Ausschnitt etwa kontrastiert die sachliche Gerichtssprache mit dem poetischen Fragment aus dem ‚Weg zur Freiheit‘ – ein bitterer Hinweis auf die Perversion nationalsozialistischer Wertebegriffe.

5. Bedeutung der Szene im Gesamtzusammenhang

Der ‚Gesang vom Ende der Lili Tofler‘ ist exemplarisch für die Strategie des Dramas: Individuelle Einzelschicksale zeigen die Struktur des Verbrechens. Lili Toflers Tod steht für den zerstörten Versuch, Menschlichkeit zu bewahren. Die Szene verdeutlicht zugleich, wie die Täter ihre Schuld durch formale Sprache und institutionelle Ordnung zu verschleiern versuchen. Das dokumentarische Prinzip von Weiss zielt darauf, Erinnerung als moralische Verpflichtung zu gestalten.

6. Hinweise zur Analyse

Für die eigene Szenenanalyse sollte man:
1. Den Konflikt und die Situation im Drama klären.
2. Die Funktion der Szene im Gesamtaufbau beschreiben.
3. Figurenkonstellation und Sprechweise untersuchen (Täter, Opfer, Richter etc.).
4. Auf sprachliche Mittel und ihre Wirkung eingehen (Kargheit, Wiederholungen, Kontraste).
5. Deuten, welche Haltung Weiss zur Erinnerung und Schuldfrage erkennen lässt.

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