Trakl, „Winternacht“: Wie „entschlüsselt“ man ein schwieriges Gedicht? (Mat6058)

Worum es hier geht:

Wir wollen an einem Beispiel zeigen, wie man ganz einfach und einigermaßen sicher ein Gedicht aus der Zeit des Expressionismus analysieren und interpretieren kann.

Dabei zeigen wir auch, wo es Grenzen des Verständnisses gibt und wie man damit umgehen kann.

Wie geht man vor?

  1. Als erstes klärt man die „Sprecher-Aktivitäten“: Was wird da sprachlich gemacht und was macht es mit dem Leser?
  2. Dann versucht man Signale des Textes zu bündeln:
    Welche ähneln sich?
    Welche widersprechen sich oder bringen Veränderungen, setzten andere Akzente?
  3. Welche „Intentionalität“ (Aussage/Aussagen) lässt sich erkennen? Worauf läuft das hinaus?
  4. Wie wird diese Intentionalität durch sprachlich-rhetorische Mittel unterstützt?
  5. Was kann man mit dem Gedicht anfangen? Wo liegt Sinn-/Bedeutungspotenzial?

Check des Gedichtes:

Das Gedicht hat in dieser Fassung eine etwas eigenwillige Form.
http://www.zeno.org/Literatur/M/Trakl,+Georg/Gedichte/Sebastian+im+Traum/Siebengesang+des+Todes/Winternacht

Wir nehmen die Einrückungen mal als Abschnittsgrenzen.

Erläuterung von Titel und Abschnitt 1

Georg Trakl

Winternacht

  1. Es ist Schnee gefallen. Nach Mitternacht verlässt du betrunken
  2. von purpurnem Wein den dunklen Bezirk der Menschen, die
  3. rote Flamme ihres Herdes. O die Finsternis!

    • Beispiel für die Beschreibung der Sprecheraktivitäten:
      Das Lyrische Ich stellt zunächst etwas fest, was zur Überschrift passt. Es ist das geschehen, was man in einer „Winternacht“ erwartet, nämlich, dass Schnee liegt.
    • Anschließend wendet das Lyrische Ich sich von der Umgebung sich selbst zu. Deutlich wird, dass es sich vom „Bezirk der Menschen“ entfernt. Dieser ist sowohl durch grundsätzliches Dunkel gekennzeichnet als auch durch einen Ansatz von Kultur bzw. Zivilisation.
    • Am Ende steht fast so etwas wie ein Begeisterungsruf: „O die Finsternis!“ Es klingt eher so, als ob das ein Wohlgefühl auslöst.
    • Inwieweit es eine Rolle spielt, dass das Lyrische Ich „betrunken / von purpurnem Wein“ diesen Positions- und vielleicht auch Weltwechsel vornimmt, bleibt zunächst offen.
    • Ebenso bleibt offen, was das für eine Parallel- oder Gegenwelt ist. In der Romantik würde man eine bestimmte Art von einsamer Natur erwarten, hier muss man warten, das als nächstes kommt.

Erläuterungen zu Abschnitt 2

  1. Schwarzer Frost. Die Erde ist hart, nach Bitterem schmeckt die Luft
  2. Deine Sterne schließen sich zu bösen Zeichen

    • Dies beginnt auf ähnliche Weise, nur dass es hier nicht um „Schnee“, sondern um „Frost“ geht, der wird mit der Farbe schwarz verbunden, wieder ein Kontrast zur roten Flamme des Herdes.
    • Der Frostgedanke wird dann auf die Erde übertragen, zum Schwarzen kommt das Harte, ergänzt noch durch das Bittere, in einer zunächst irritierenden Satzkonstruktion: „nach Bitterem schmeckt die“ – aber das ist wohl eine Art nachgeschobene Apposition.
    • Die letzte Zeile macht dann endgültig deutlich, dass es hier nicht ins Romantische geht, denn die Sterne werden zu „bösen Zeichen“.
    • Das Wort „schließen“ erscheint erst mal ungewöhnlich in der Verbindung mit Sternen, allerdings „schließen“ sich ja auch die Zukunftsaussichten, wenn man mit „bösen Zeichen“ konfrontiert wird. Von daher passt das schon.
    • Es lohnt sich, hier schon mal ein Zwischenfazit zu ziehen. Die Trunkenheit der ersten Zeile hat wohl nicht dazu geführt, dass hier ein gutes Ziel angestrebt wird – man hat den Eindruck, dass die „rote Flamme“ des Herdes wohl eher für Geborgenheit steht und jetzt Gefahr droht.

Erläuterungen zu Abschnitt 3

  1. Mit versteinerten Schritten stampfst du am Bahndamm hin,
  2. mit runden Augen, wie ein Soldat, der eine schwarze Schanze
  3. stürmt. Avanti!

    • Konsequent wird das hier jetzt fortgesetzt, indem das lyrische Ich selbst die Härte des Bodens annimmt.
    • Jetzt kommt es zu dem ersten Bruch in dem Gedicht: Das Stampfen am Bahndamm passt in keiner Weise zu dem Stürmen des Soldaten.
    • Und wieso das Kennzeichen eines stürmenden Soldaten runde Augen sein sollen, erschließt sich dem Leser auch nicht.

Erläuterungen zu Abschnitt 4

  1. Bitterer Schnee und Mond!

    • Bei dieser Bemerkung hat man den Eindruck, dass alles um das lyrische Ich herum, vom Schnee bis zum Mond, ihm  unangenehme Empfindungen verschafft.
    • Woher die kommen, bleibt unklar.
    • Immer mehr verstärkt sich der Eindruck, dass es sich hier um die Variante des Expressionismus handelt, bei der ganz extreme innere Gefühle, Empfindungen, Gedanken relativ unkontrolliert nach außen gelangen und sich dann mit irgendwelchen Elementen der Realität verbinden, ohne dass das von einem anderen Menschen einfach nachvollzogen Werden kann.
    • So etwas macht eine Interpretation natürlich in Norm schwierig.

Erläuterungen zu Abschnitt 5

  1. Ein roter Wolf, den ein Engel würgt. Deine Beine klirren
  2. schreitend wie blaues Eis und ein Lächeln voll Trauer und
  3. Hochmut hat dein Antlitz versteinert und die Stirne erbleicht
  4. vor der Wollust des Frostes;
  5. oder sie neigt sich schweigend über den Schlaf eines Wächters,
  6. der in seiner hölzernen Hütte hinsank.

    • Hier verstärkt sich der Eindruck weiter, denn das Bild von dem von einem Engel gewürgten Wolf hat nichts zu tun mit dem, was vorher beschrieben worden ist.
    • Zu fragen wäre, ob dieses Bild irgendetwas mit dem Erzengel Michael zu tun hat, der ja also Drachentöter bekannt ist.
    • Eher nachvollzogen werden kann das, was mit den Beinen verbunden wird. Das passt nämlich zu den versteinerten Schritten.
    • Auch die Versteinerung des Gesichtes sowie das Erbleichen der Stirn kann man noch nachvollziehen.
    • Woher das Lächeln voll Trauer und Hochmut aber kommen soll, bleibt das Geheimnis des lyrischen Ichs.
    • Das gleiche gilt für die plötzliche Verbindung des Frostes mit Wollust. Dafür gibt es keine Signale, die das in irgendeiner Weise vorbereitet hätten. Ganz im Gegenteil hat man eher den Eindruck, dass das winterliche Umfeld keinen guten Eindruck auf das lyrische Ich gemacht hat. Man denke etwa an die Formulierung „Bitterer Schnee und Mond“.
    • Das steht im völligen Widerspruch zur Wollust. Es sei denn, das lyrische ich betrachtet das als Genitivus subjectivus und personalisiert hier auf geheimnisvolle Art und Weise den Frost.
    • Warum die Stirn sich plötzlich „schweigend über den Schlaf eines Wächters“ neigen sollte, bleibt ebenfalls das Geheimnis des lyrischen Ichs.
    • Vielleicht deutet das ja an, dass unsere Vermutung richtig ist und hier einfach nur mit assoziativen inneren Bildern gespielt wird.
    • Vor dem Hintergrund verzichten wir mal darauf, irgendwelche Spekulationen anzustellen, was hier mit der hölzernen Hütte konkret gemeint ist.
    • Möglicherweise kann man die Hütte hier als etwas Wärmendes und Schützendes verstehen, denn der dort mögliche Schlaf passt natürlich gut zu dem eigenen Schlaf am Schluss.

Erläuterungen zu Abschnitt 6

  1. Frost und Rauch. Ein weißes Sternenhemd verbrennt die
  2. tragenden Schultern und Gottes Geier zerfleischen dein metallenes

    • Hier wird wieder kurz auf eine Außenwelt eingegangen, die man sich in einer Winternacht vorstellen kann.
    • Auch kann man sicherlich helle Sterne als etwas Brennendes empfinden.
    • Was mit tragenden Schultern gemeint ist, bleibt wieder unklar, es sei denn das lyrische Ich bezieht sie auf sich selbst und hält sich für eine Art Herkules, der kurzzeitig die Himmelslast des Atlas auf die Schultern genommen hat.
    • Wenn man schon nach mythologischen Anspielungen sucht, ist man natürlich bei den Geiern und dem Zerfleischen schnell bei Prometheus.
    • Das metallene Herz passt dann durchaus wieder zu der Selbstbeschreibung des lyrischen Ichs.

Erläuterungen zu Abschnitt 7

  1. O der steinerne Hügel. Stille schmilzt und vergessen der kühle
  2. Leib im silbernen Schnee hin.
  3. Schwarz ist der Schlaf. Das Ohr folgt lange den Pfaden der
  4. Sterne im Eis.
  5. Beim Erwachen klangen die Glocken im Dorf. Aus dem östlichen Tor
  6. trat silbern der rosige Tag.

  • Dann wieder ein Jubelruf. Sinn machen würde es (die Formulierung muss hier erlaubt sein, denn das Gedicht hat von sich aus zu wenig Sinn), wenn man den steinernen Hügel als Metapher für die Stadt ansieht, in die das Lyrische Ich zurückkehrt.
  • Das würde auch erklären, warum die Stille schmilzt – wenn das auch ein seltsames Bild ist für wieder beginnende Geräusche der Zivilisation.
  • Verständlich wäre dann auch, warum der „kühle / Leib im silbernen Schnee“ vergessen werden kann – das „hin“ am Ende verzeihen wir in seiner syntaktischen Irrigkeit mal wieder und nehmen es als Signal, dass das Lyrische Ich sich zur Stadt „hin“-gezogen fühlt.
  • Erst haben wir Sorge um das Lyrische Ich gehabt: Dass jetzt von Schlaf die Rede ist, der schwarz ist, ist nachvollziehbar, aber wohl eher verhängnisvoll, wenn dieses Gedicht irgendetwas mit der Realität zu tun hätte.
  • Vor dem Hintergrund der Steinhügel-Hypothese wäre das lyrische Ich aber zu Hause angelangt – und da lässt sich gut schlafen.
  • Dass angeblich das Ohr lange den Pfaden der Sterne folgt, ist wieder so eine kleine Zumutung an Logik und Nachvollziehbarkeit, denn die Sterne dürften kaum Geräusche gemacht haben. Also auch wieder eine sehr innere Empfindung der Fantasie.
  • Wieder auf der Linie unserer Steinhügelhypothese kann das lyrische Ich ruhig von Glocken geweckt werden, auch wenn wir jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, dass hier schon ein Dorf einen Steinhügel produziert.
  • Das mit den Glocken erinnert ein bisschen an Goethes Faust, der ja von Osterglocken vom Selbstmord abgehalten wurde.
  • Auch das mit dem Tor wollen wir im lyrischen ich verzeihen, es hat eben die Vorstellung, dass die Sonne morgens durch ein Tor hin durch tritt.
  • Und dass da ein rosiger Tag heran kommt, mag diesem expressionistischen Träumer auch zugestanden werden, vor allem wenn das kleine Abenteuer in der Winternacht doch nicht so schön gewesen ist, wie das lyrische Ich sich in seiner Trunkenheit zunächst vorgestellt hat.
  • Was es allerdings unter einem silbernen Treten versteht, bleibt abschließend auch noch sein Geheimnis.

Zusammenfassung der inhaltlichen Analyse:

Nach einigermaßen brauchbarem Beginn in den ersten fünf Zeilen muss dem lyrischen Ich wohl etwas der Verstand eingefroren sein, denn der Rest besteht nur noch aus inneren Bildern, die mit der Realität wenig zu tun haben und in sich auch nicht immer stimmig sind.

So bleibt dem Leser nur übrig, dieses Gedicht mit seinen entweder hermetischen oder nicht ernst gemeinten oder dem Alkohol geschuldeten additiven Feststellungen zu akzeptieren und zusammenfassend folgendes festzustellen:

  1. Am Anfang scheint das lyrische ich in seine besonderen Situation die Welt außerhalb der Ökumene, also den zivilisierten Gegenden, positiv zu empfinden.
  2. Dann wird die Stimmung drüber, was durchaus schlüssig ist, wenn jemand betrunken ins Dunkle und Kalte hinaus marschiert.
  3. Dann kommen irgendwelche Erinnerungen assoziativ heraus, die zunächst etwas mit Krieg zu tun haben,
  4. dann sich auf widersprüchliche Art und Weise mit Mord und Lust verbinden.
  5. Im Schlussteil sieht sich das lyrische Ich sich als Opfer einer überwältigenden Umgebung.
  6. Alles endet dann im Schlaf und Schließlich in einem neuen Tag, der als positiv empfunden wird.
  7. Alles in allem eine sehr problematische Verbindung von noch nachvollziehbarer Beziehung zur Außenwelt und einem Abtauchen in innere Fantasiebilder.
  8. Schüler dürften durch solch ein Gedicht eher in ihrer Abneigung verstärkt werden gegenüber Gedichten, es sei denn, so ein Gedicht wird zum Anlass genommen, dem Wort des Dichters eine Ant-Wort des Lesers gegenüberzustellen.
  9. Für ganz problematisch halten wir es, im Nachhinein die Schüler mit einer germanistischen, d.h. das Gesamtwerk des Dichters einbeziehenden Interpretation zu konfrontieren. Das würde wiederum alle Vorteile von Schülern gegenüber Gedichten verstärken. Das hätte auch mit Schule und allgemein Bildung nichts mehr zu tun, sollen wäre nichts anderes als eine Vorbereitung auf das Germanistikstudium oder auch Abschreckung davor.

Versuch, die Aussagen, die Absicht, die Intentionalität dieses Gedichtes zu bestimmen

Am einfachsten bestimmt man die Zielrichtung eines Gedichtes, indem man den Satz fortsetzt:

Das Gedicht zeigt …

In diesem Falle könnte man den Satz so ergänzen:

Das Gedicht zeigt,

  1. wie es einem Menschen in einer Winternacht ergeht, wenn er „betrunken von purpurnem Wein“ den „Bezirk der Menschen“ verlässt,
  2. wie er die „Finsternis“ am Anfang noch fast bejubelt,
  3. wie „Schwarzer Frost“ und harte Erde dafür sorgt, dass die Luft für ihn eher „nach Bitterem“ schmeckt“ und er die Sterne mit „bösen Zeichen“ verbindet,
  4. dass er sich schließlich „am Bahndamm“ wie ein Soldat fühlt, „der eine schwarze Schanze stürmt“ und
  5. dann immer mehr in unangenehme Fantasien verfällt und die Wirklichkeit gar nicht mehr real wahrnimmt,
  6. wie er sich schließlich danach sehnt, sich „über den Schlaf eines Wächters“ zu neigen, „der in seiner hölzernen Hütte hinsank“,
  7. dann sich dem Untergang immer näher fühlt
  8. und dann ein zweites Mal jubelnd aufstöhnt, es ist „der steinerne Hügel“ einer Siedlung, der alles Belastende dahinschmelzen und die Sorgen vergessen lässt,
  9. wie er schließlich in einen totenähnlichen Schlaf verfällt, wobei ihn noch lange die Sterne verfolgen,
  10. wie er schließlich wie weiland Faust durch die Osterglocken zu neuem Leben aufgeweckt wird und es „der rosige Tag“ ist, der ihm „silbern“ entgegentritt.

Und dann gibt es auch noch die Frage nach „Statik und Dynamik“ in diesem Gedicht

Das ist wieder so eine typische Germanistenfrage.

Kein Mensch käme von sich drauf, diese Gegensätze in diesem Gedicht für „konstitutiv“ zu halten.

Viel eher sieht man hier den Gegensatz zwischen Heimat und Abenteuer, zwischen dem „dunklen Bezirk der Menschen“, wo aber auch „die rote Flamme des Herdes“ brennt. Und auf der anderen Seite die „Finsternis“, die man erst schön findet, die einen dann aber zunehmend erkalten, ja fast schon  den Verstand verlieren lässt.

Aber gut, suchen wir Statik und Dynamik.

Am dynamischsten ist ja wohl das lyrische Ich, denn es bewegt und verändert sich.

Alles Drumherum ist Natur – und zwar eine zunehmend gefährliche, tötende.

Am Ende findet eine Art glücklicher Heimkehr statt – die Dynamik war in einem höheren Sinne ein Irrweg – und das lyrische Ich hätte es eher wie Eichendorffs Ich-Held im Gedicht „Sehnsucht“ machen soll – immer schön den anderen hinterherträumen, aber am sicheren Fenster bleiben.

Inwieweit diese Statik auf noch höherer Ebene den einen Schüler oder die andere Schüler zu dynamischem Protest herausfordert, das ist im unendlichen Spiralspiel des Umgangs mit Literatur halt die nächste Frage.

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