Video: Kleist – „Krug“ – Vergleich der Kurzfassung mit der Langfassung (Mat7356-vv12)

Kleist – „Krug“: Warum eine Kurz- und eine Langfassung der Szene 12

Viele haben sich sicher genauso gewundert wie wir, dass es bei Kleists Komödie „Der zerbrochene Krug“ zwei Varianten der eigentlichen Schluss-Szene gibt.

Die unterscheiden sich auch noch von der Länge her deutlich.

Was sich da unterscheidet – und warum das wohl so ist, wollen wir im Folgenden klären.

Es gibt auch ein Video, in dem wir das klären. Das kann man hier finden:

Videolink
Hier die „bemalte“ Präsentations-Variante:

Timeline mit direkter Sprungmöglichkeit zum gewünschten Clip

0:00 Thema
0:35 Voraussetzungen
2:13 Vergleich Länge
2:35 Liste der Erweiterungen
2:50 Zusammenfassung Vergleich
5.30 Kleists Intention
7:10 Zusammenfassung
7:35 Doku

Schritt 1: Stellung der Szene in der Komödie

  • eigentlich Schluss-Szene
  • vorher ist nämlich endlich die Wahrheit über den nächtlichen Besuch bei Eve herausgekommen – und die Frage, wer dabei den Krug zerstört hat, nämlich Richter Adam selbst
    • Erreicht wurde das durch die dramatische Zuspitzung, dass der Gerichtsrat die Sitzung zum Nachteil Ruprechts schließen wollte,
    • nachdem der Richter die scheinbare Zustimmung des Gerichtsrates nutzen wollte, um auf diese Art und Weise den eigenen Hals aus der Schlinge zu ziehen
    • Ruprecht soll ins Gefängnis – der Gerichtsrat begnügt sich scheinbar mit der Appellationsmöglichkeit an das höhere Gericht in Utrecht.
    • Eve fordert erzürnt Ruprecht auf, den Richter von seinem Stuhl zu stoßen
    • Daraufhin läuft Adam weg und bekennt damit indirekt seine Schuld.
    • Bei der Verfolgung des Richters entsteht ein Tumult, den der Gerichtsrat mit einem Machtspruch beendet.
    • Ruprecht wird von seinem Vater beruhigt..
  • Ausblick auf Szene 12
    • Jetzt muss die Sache neu verhandelt und entschieden werden – in Abwesenheit des geflohenen Richters
    • Da ist man gespannt, wie das einmal ganz kurz geschieht – und einmal doch sehr lang
    • Auf jeden Fall muss alles am Ende geregelt sein – bis auf die Frage, wie das mit dem scheinbaren eigentlichen Prozess-Gegenstand weitergeht, nämlich das Problem des zerbrochenen Kruges (Szene 13)

Schritt 1: Überblick über Dramatik Kurzfassung

  • 1907-1911 Ruprecht entschuldigt sich bei Eve und bittet sie um Vergebung
  • 1912-1924: Eves Verzweiflung wegen des eigentlichen Problems: Angst, dass Ruprecht nach Ostasien muss
  • 1925-1936: Entlarvung des gefälschten Briefes und Versicherung des Gerichtsrates, dass die Ostindien-Gefahr nicht besteht
    Gerichtsrat verspricht, im anderen Fall den Ruprecht freizukaufen.
  • 1937-1946: Eve beschreibt die Erpressung und den versuchten Übergriff des Richters
  • 1947-1953: Empörte Reaktion Brigittes, Entspannung bei Ruprecht, er und Eve küssen sich (Versöhnung), Vater Veit kündigt die Hochzeit zu Pfingsten an
  • 1954-1967: Gerichtsrat fragt nach dem Richter, Licht entdeckt ihn auf der Flucht, Gerichtsrat entscheidet: Suspendierung, Licht als Vertretung, Ankündigung milder Maßnahmen, wenn sonst keine Probleme bei Adams Amtsführung mehr entdeckt werden.

Schritt 2: Überblick über Dramatik Langfassung (Variant)

Die Unterschiede im Ablauf der Szene

  1. 1907-1922: Ruprechts Einsicht und Vermühen um Vergebung
    Eves Verweigerung -> Ruprecht bittet um Prügel
  2. 1924-1945 Mahnung des Gerichtsrats: endlich ganze Wahrheit sagen, ihre Beschuldigung allein reicht nicht
    Zwischenspiel: Ruprecht nimmt sie in Schutz, möchte aber am liebsten alles mit ihr allein klären.
    Eve deutet an, dass die Wahrheit nicht reicht – wegen des Konskriptionsproblems
  3. 1946-1958 Eve wirft sich dem Gerichtsrat zu Füßen und bittet um Hilfe
  4. 1959-2001 Konskriptionsproblem: allgemein u. konkreter Besuch
    Bereitschaft, sich dem allgemeinen Heimat-Dienst fügen muss
  5. 2001-2025: Auftrag der Mutter -> Richter Adam, der sieht Eves Leiden und macht ihr das Attestangebot: Eve lehnt ab wegen Vaterlandspflicht
  6. 2026-2092: Adams ausführliche Ostasien-Gefahr-Schilderung ->
    Eve willigt ein: „List gegen List“ (2093)
  7. 2093-2007: Absprache: Adam will den Schein abends bringen, Eve ihn am nächsten Morgen abholen; Adam willigt ein.
  8. 2008ff: Eve wartet auf Ruprecht, allerdings schleicht Adam heran: Name-Nachtrag-Tinten-Trick plus angebliche Reise am nächsten Morgen -> kommt in Eves Zimmer
  9. 2098-2253: Im Zimmer Übergang zu übergriffigem Verhalten Adams; Ruprecht rettet sie, Adam flieht, Krug zerbricht, Richter bekommt Schläge, verletzt sich, wird aber nicht erkannt.
  10. 2255-2288: Mutter u.a. erscheine, sehen in Ruprecht den Übeltäter; Eve unterstützt das scheinbar.
  11. 2289ff: Am nächsten Morgen Eve u. Mutter zu Ruprecht u. Vater = Empörung/Beschimpfung statt Aussprache -> Auflösung der Verlobung
  12. 2303ff: Gerichtsrat „tadelnswert“ wegen Betrug, aber „verzeihlich“ wegen der Liebes-Notlage, Klärung: gefälschter Ostasien-Brief; Misstrauen Ruprechts und Eves
  13. 2349-2375 : Geldangebot als Pfand für Heimatdienst
  14. 2376 Gerichtsrat will einen (hoffentlich Freundschafts-)Kuss
    Zukunftsperspektive: Ruprecht will brav in der Heimat dienen
    Der Gerichtsrat will ihn einem befreundeten Offizier empfehlen
    Und an der Hochzeit teilnehmen.
    Eves Mutter und Ruprechts Vater sind einverstanden mit der aktuellen Situation.
  15. 2401 Gerichtsrat fragt nach dem Richter
    Ausführliche Beschreibung seiner peinlichen Fluchtsituation
    Gerichtsrat fordert auf, ihn zurückzuholen, will für ihn nach Abschluss der Prüfung einen passenden Platz suchen, wo er zu „erhalten“ ist.

Auswertung der Unterschiede

1.Eves Verweigerung einer schnellen Versöhnung erzwingt die von Ruprecht nicht gewünschte öffentliche Klärung des Vorfalls.Sie nähern sich dann im Laufe der Klärung immer mehr an.
2.Beharrlichkeit des Gerichtsrates führt zu einer präzisen Schilderung aller Einzelheiten.
3.Deutlich werden auch die Folgen – Aufhebung der Verlobung = neuer Konflikt
4.umfangreichere Klärung der Wahrheit des Militärdienstes
5.differenzierte Bewertung von Eves Verhalten durch den Gerichtsrat.
6.Ausführlichere Darstellung und Nutzung des Geldpfand-Angebots
7.Persönliches Engagement des Gerichtsrates wird deutlich (Kuss und Teilnahme an der Hochzeit)
8.Konkretisierung der Zukunftserwartungen
9.Frage nach dem Richter und sein Schicksal identisch.—Insgesamt Konkretisierung, Differenzierung des Falls statt schneller Auflösung.

Kleist und die Varianten

  • Die Variant-Szene ist die Ur-Fassung, sie entsprach also der Intention des Dichters.
  • Es waren dann wohl theaterpraktische Überlegungen – vor allem nach dem katastrophalen Ergebnis der Inszenierung durch Goethe:Ziel: Die Zuschauer am Ende nicht noch mal lange ermüden – sondern schnell ein Happy End – siehe Kurz-Szene.—
  • Kleist kam es wohl darauf an,
    • hier wirklich die genauen Umstände deutlich zu machen,
    • auch das Verhalten der Figuren viel differenzierter herauszuarbeiten.
    • Letztlich war sein Ziel wohl nicht nur ein netter Abend mit vielen lustigen Momenten,
    • sondern die echte Aufarbeitung menschlichen Fehlverhaltens und besonders auch eines Amtsmissbrauchs,
    • zwar in zum Teil recht komischer Präsentation,
    • dann aber doch als realen Problem, das durch einen sehr hartnäckigen und umsichtigen Gerichtsrat aufgedeckt wird – zum teil mit ziemlichen Tricks.
  • Adam durch gemeinsames Essen von weiterer Beeinflussung abzuhalten
  • Eve durch einen Schein-Schuldspruch Ruprechts zur Wahrheit herauszufordern.
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