Ein Zitat zu einer Lektüre verstehen und auswerten (Dürrenmatt, „Der Besuch der alten Dame“) (Mat6110)

Worum es hier geht:

Neben der Analyse und Interpretation sowie der Erörterung von Textstellen in einer Lektüre spielen auch Stellungnahmen eine Rolle, zu denen man wiederum Stellung nehmen soll.

Das bedeutet immer erst mal, dass man den entsprechenden – meistens nicht zu langen – Text oder das Zitat überhaupt erst mal versteht, um es dann überprüfen und einschätzen zu können.

Beispieltext: Kommentar Dürrenmatts

zu den beiden Haupfiguren seines Theaterstück „Der Besuch der alten Dame“

Wir gehen hier von einem Zitat aus, das man auf der Plattform zum.de finden kann, die Materialien für Lehrer und Schüler zusammenstellt:

Zu finden ist dieses Zitat hier:
https://wiki.zum.de/wiki/Der_Besuch_der_alten_Dame

Nach einer kurzen Einführung in den Inhalt des Stücks wird dann von Dürrenmatt, dem Verfasser des Stücks, eine „Einlassung“, die man sich einfach auf den Bildschirm holen kann. Wir nehmen sie hier nur auseinander, um zu zeigen, wie man einen solchen Text am besten versteht:

  1. Zunächst wird Claire Zachanassian von allen radikalen Urteilen befreit und auf ihre Rolle als „reichste Frau der Welt“ reduziert, die durch ihr Vermögen in der Lage“ ist, „wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa. Sie kann es sich leisten.“
    Damit vertritt Dürrenmatt die These, dass Reichtum einem die Möglichkeit gibt, alle Gesetze zu übertreten, sich nicht nur finanziell, sondern auch sonst alles leisten zu können.
    Interessant ist der Hinweis auf Medea, eine Frau aus der griechischen Sagenwelt, die von ihrem Mann verlassen wird und aus Rache die gemeinsamen Kinder tötet, also etwas, was sie selbst ja auch lieben muss. Hier zeigt sich schon eine Verbindung zu ihrem Umgang mit dem toten Ill.
  2. Im zweiten Absatz nennt Dürrenmatt zunächst Claire Zachanassian als „Heldin von Anfang“. Ihm kommt es dabei darauf an, dass sie keine Entwicklung durchmacht, sondern bei ihrer Anfangslinie konsequent bleibt.
    Was Ill angeht, so wird der für Dürrenmatt „erst zum Helden“.
    Er beschreibt ihn dann ziemlich negativ und hebt hervor, dass er sich eben entwickelt. Er wird zu einem „Mann, dem langsam etwas aufgeht“, der also etwas begreift.
    Die Mittel dabei sind „Furcht“ und „Entsetzen“, also Kategorien, die seit Aristoteles für eine Katharsis nötig sind.
    Von Bedeutung ist für Dürrenmatt, dass dieser Mann „an sich die Gerechtigkeit erlebt, weil er seine Schuld erkennt“.
    Und dam Ende wird er „große [sic] wird durch sein Sterben …“
  3. Zum Schluss die interessante These: „Sein Tod ist sinnvoll und sinnlos zugleich.“
    Das „Sinnvoll“ bezieht sich wohl auf seine Erkenntnis und die Möglichkeit, auf eine besondere Weise seine Schuld zu sühnen – denn er stellt sich ja dem Urteil der Gemeinde, auch wenn dieses selbstsüchtig ist.
    Und das ist wohl auch das, was Dürrenmatt hier mit „sinnlos“ meint. Es wird ja deutlich, dass Claire am Ende auch die Bürger verurteilt, die für Geld nur ihren Mitbürger verurteilen, die eigene Mitschuld aber nicht anerkennen.

    Seltsam erscheint auf den ersten Blick die Feststellung: „Sinnvoll allein wäre er [Ills Tod] im mythischen Reich der antiken Polis, nun spielt sich die Geschichte in Güllen ab. In der Gegenwart.“
    Vielleicht meint Dürrenmatt damit, dass ein solches Schicksal auf der Bühne ja in der Antike ja gerade zur moralischen Besserung der Menschen genutzt wurde.
    Für ihn ist „Güllen“ aber ein Ort, an dem das gezeigt wird, das reale Gegenwart ist.
    Und so besteht die eigentliche Tragik darin, dass das so ist und sich vielleicht mit Hilfe eines Theaterstücks auch nicht ändern lässt.

Auswertung für den Umgang mit solchen Sachtexten

  1. Wichtig ist hier im Auge zu behalten, dass sich der Schriftsteller über seinen eigenen Text äußert. Dabei hat er nur die gleiche Kompetenz wie jeder Leser (und Schüler) auch. Es zählt nur das, was im Text des Dramas steht. Der Verfasser hat nach der Veröffentlichtung eines literarischen Werkes keine Rechte mehr daran. Er kann höchstens autobiografisch erklären, was er sich dabei gedacht oder was ihm dazu eingefallen ist. Stimmen muss das für die Interpretation deswegen noch nicht.
  2. In diesem Falle wird man ihm aber wohl zustimmen können.
  3. Tatsächlich macht Dürrenmatt als Kenner seines eigenen Stückes auf drei Dinge aufmerksam. [So ein Hinweis auf eine Zahl zeigt immer Übersicht!]
    1. auf die Besonderheit der statischen Figur der Claire
    2. auf die Dynamik der Figur Ills
    3. und auf das Problem der moralischen Verortung. Offensichtlich würde Dürrenmatt sich bei einer solchen Geschichte in der Antike (man denke an Medea) wohler fühlen als bei einem Fall, den er für in der Gegenwart möglich hält.
  4. Dann war und ist es wichtig, die einzelnen Passagen so auszuwerten, dass wirklich in der Analyse möglichst mehr deutlich wird, als schon im Text steht.
    Das wird vor allem zum dritten Absatz geleistet.
  5. Dabei ist es hilfreich, wenn man Wissen von außen heranzieht, zum Beispiel die Katharsis-Lehre von Aristoteles.

Problem, wenn Autoren sich zu den eigenen Texten äußern:

Am Beispiel von Judith Hermann und ihrer Kurzgeschichte „Sommerhaus später“ haben wir versucht nachzuweisen, dass es wirklich besser sein kann, wenn Autoren sich nicht interpretierend zu eigenen literarischen Texten äußern.

Siehe dazu das Youtube-Video:
https://youtu.be/E6RSW60I6EY
Die Dokumentation findet sich hier:
Mat1128 VidBegBlatt Autor aus dem Spiel lassen

Weitere Infos, Tipps und Materialien