Paul Boldt, „Berliner Abend“ (Mat6234-sd2)

Paul Boldt, „Berliner Abend“

Paul Boldt
 
Berliner Abend

01 Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!
02 Der Asphalt dunkelt und das Gas schmeißt sein
03 Licht auf ihn. Aus Asphalt und Licht wird Elfenbein.
04 Die Straßen horchen so. Riechen nach Lenz.

05 Autos, eine Herde von Blitzen, schrein
06 Und suchen einander in den Straßen.
07 Lichter wie Fahnen, helle Menschenmassen:
08 Die Stadtbahnzüge ziehen ein.

09 Und sehr weit blitzt Berlin. Schon hat der Ost,
10 Der weiße Wind, in den Zähnen den Frost,
11 Sein funkelnd Maul über die Stadt gedreht,

12 Darauf die Nacht, ein stummer Vogel, steht.
Zusammenfassung der Textsignale zu Aussagen: Das Gedicht zeigt …
  1. … die Eindrücke, die sich bei einem fortschreitenden Abend ergeben,
  2. eine gewisse Kritik an der Lage der Menschen (01 und 07),
  3. die Beziehungslosigkeit der Elemente der Stadt und
  4. ihr Ausgesetztsein an den kommenden Frost.
Künstlerische Mittel:
  1. Personifizierungen, z.B. 02, 05 usw.
  2. Tiermetaphern
  3. Vergleiche, 07
Anmerkungen zum Gedicht:
  • Das Gedicht stammt aus der Zeit des Expressionismus.
  • Es besteht aus drei Strophen mit jeweils 4 Zeilen;
  • In den ersten beiden Strophen ein umarmender Reim, in der letzten Paarreime.
  • Es gibt kein einheitliches Versmaß
    Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!
    X      x      x     X     x       X   x   X  x  X
    Das Problem liegt hier am Anfang, Hebung und Senkung wechseln sich nicht ab.
  • Strophe 1:
  • Beginn mit Kritik an den Menschen an einem Berliner Abend – sie sind nicht mehr als ein Spuk und haben keine wirkliche Existenz.
  • Dann werden Lichteindrücke beschrieben – am Ende ein Hinweis auf ein Vorgefühl auf Frühling.
  • Strophe 2:
    Eingehen auf den Autoverkehr, der mit einer Tierherde verglichen wird, wobei allerdings wieder die Lichteffekte im Vordergrund stehen.
  • Am Ende geht es um die „Menschenmassen“ und die „Straßenbahnzüge“, die wohl in ihre Depots fahren, es ist ja Abend.‘
  • Strophe 3:
  • In der letzten Strophe geht es zum einen um die Wirkung von Berlin ins Umland hinein, von dort kommt aber auch ein kalter Wind, der wie ein Tier gesehen wird, das sich gewissermaßen über der Stadt einnistet.
  • Am Ende ist die Nacht da, die ebenfalls mit einem Tier, diesmal mit einem Vogel verglichen wird.

Einordnung in die Epoche des Expressionismus

Hierzu lässt sich Folgendes sasgen:

  1. Das Gedicht thematisiert das Leben in der Großstadt Berlin, ein zentrales Motiv des Expressionismus.
    Die Darstellung der Stadt als chaotisch und überwältigend spiegelt das Gefühl der Verlorenheit und Anonymität wider, das viele Menschen in der rasch wachsenden Metropole empfanden.
  2. Boldt verwendet eine stark bildhafte Sprache mit ungewöhnlichen Metaphern, wie „Autos, eine Herde von Blitzen“ (Zeile 5) oder „Die Nacht, ein stummer Vogel“ (Zeile 12). Dies ist ein typisches Merkmal expressionistischer Lyrik.
  3. Das Gedicht ist reich an visuellen und akustischen Eindrücken, die die Überwältigung der Sinne in der Großstadt verdeutlichen. Dies entspricht der expressionistischen Tendenz, subjektive Wahrnehmungen intensiv darzustellen.
  4. Die Aneinanderreihung von Bildern und Eindrücken ohne klare logische Verbindung (z.B. Zeilen 5-8) ist ein charakteristisches Stilmittel des Expressionismus.
  5. Ausdrücke wie „spukhaftes Wandeln“ (Zeile 1) oder die Personifizierung der Straßen, die „horchen“ (Zeile 4), sind typisch für die sprachlichen Experimente des Expressionismus.
  6. Das Gedicht arbeitet mit starken Kontrasten, wie hell und dunkel, Bewegung und Stille, die die Zerrissenheit und Dynamik der Großstadt betonen.
  7. Die erste Zeile „Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!“ deutet auf ein Gefühl der Entfremdung und Unwirklichkeit hin, das oft in expressionistischen Werken thematisiert wurde.

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