Die Lebenswelt-Theorie des Philosophen Husserl (Mat7367-husserl)

Begriffe stecken voller individueller „Lebenswelt“

Im Folgenden präsentieren wir die Lebenswelt-Theorie des Philosophen Husserl aus, wie sie uns von Richard David Precht in seinem Buch „Eine Geschichte der Philosophie 4“ sehr verständlich und anregend erklärt worden ist.

Quelle:
Richard David Precht, Eine Geschichte der Philosophie 4, Wilhelm-Goldmann-Verlag: München 2023, Kindle E-Book-Ausgabe, https://amzn.eu/f1ZTZbX, S. 147-148

Das Zitat präsentieren wir in Kursivschrift).
Die Nummerierung dient der Übersichtlichkeit und stammt von uns. Eingerückt dazu unsere Anmerkungen (in Normalschrift):

  1. „Worum geht es? Unser Bewusstsein erlebt nicht nur situative Zeitpunkte, sondern es verknüpft immer Gegenwärtiges (die Urimpression) mit Vergangenem und Zukünftigem. Erst das Ineins von Wahrnehmungen mit Erinnerungen (Retentionen) und Vorwegnahmen (Protentionen) schafft Menschen ein Bewusstseinsfeld.
    • Dies ist eine wichtige Basis, die man im Kopf behalten muss, wenn es um Bewusstsein und Kommunikation geht.
    • Man merkt das im Extremfall sehr deutlich an Vor-Urteilen, die ja zunächst nichts Negatives sind, sondern im hermeneutischen Sinne ein Erkenntnis-Zwischenstand,
    • von dem man hoffen kann, dass er in Frage gestellt und weiterentwickelt wird.
  2. Auf diese Weise entstehen stets neue Wahrnehmungen, die allmählich wieder verblassen oder, wie Husserl schön sagt, sich »abschatten«.
    • Damit sind wir bei dem Faktor Zeit und der Bedeutung des Erkenntnis- und Bewusstseinswandels.
    • Von Max Frisch gibt es das schöne Zitat: „Als gäbe es Wahrheit ohne Zeit.“
  3. So erleben wir im Erlebnisstrom Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft immer zugleich. Und nur so ist beispielsweise erklärlich, dass wir Melodien hören können und nicht nur einzelne Töne ohne Zusammenhang.
  4. Unsere Identität, das Gefühl des zeitlichen Sich-Durchhaltens als ein und dieselbe Person, entsteht aber nicht allein im Erlebnisstrom. Wir sind in der Lage, aus dem Erlebnisstrom der Wahrnehmung auszuscheren und überzuwechseln in einen Erlebnisstrom der Erinnerung.
  5. Wo Bergson von einem »reinen Gedächtnis« spricht, das sich Vergangenes frei vergegenwärtigen kann, da spricht Husserl von einer »Querintentionalität«, die aus der »Längsintentionalität« des normalen Erlebnisstroms ausbricht.
    • Dem kann man nur zustimmen – es ist wie bei der Antike-Aufnahme durch zunächst die Renaissance und dann die Weimarer Klassik oder heute im Retro-Look: Nichts wird als reine Kopie aufgenommen – weil auch hier der altgriechische Spruch des Vorsokratikers Heraklit gilt: „“In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht““
  6. Die Erinnerung hat den unschätzbaren Vorteil, dass wir unsere Intentionalität hier auch auf uns selbst richten können.
    • Das bedeutet automatisch eine Verbindung von alter Realität und aktueller Sicht darauf.
  7. Herausgehoben aus der Kontinuität vergegenwärtigen wir unseren vergangenen Erlebnisstrom in gleichsam stillgestellten Momentaufnahmen.
    • Auch ein sehr wichtiger Gedanke, dass wir einen Gedächtnisinhalt natürlich aus seinem Kontext lösen. Man denke etwa an traumatische Erfahrungen, die natürlich akzentuiert sind auf einen Moment.
  8. Sie machen es uns möglich, unsere Urimpression und unsere Retentionen und Protentionen zugleich zu überblicken und uns damit selbst »gewahr« zu werden.
    • Hier wird deutlich, in welchem Ausmaß unser Idenitätsbewusstsein abhängig ist von Erinnerungen und Gegenwartshorizont.
  9. Und wie bei Bergson, so beweist dieses freie Verfügen über die Erinnerung auch für Husserl die Existenz eines »reinen« (Husserl) oder »tiefen« (Bergson) Ich.
  10. Freiheit ist, mit einem Wort, immer die Freiheit der Erinnerung.“
    • Umso wichtiger ist es, die Warnung Orwells aus dem Roman „1984“ ernstzunehmen, dass die rückwirkende Manipulation von Vergangenheitsdokumenten“ ein Verbrechen ist an den Erinnerungsmöglichkeiten nachfolgender Generationen.“

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