Worum es hier geht:
Wir zeigen hier, wie man gut mit einer Fabel klarkommt.
Aktueller Hinweis:
Wir haben zu dieser Fabel inzwischen auch ein Video gemacht, das über die folgende Seite abgerufen werden kann:
Magnus Gottfried Lichtwer
Der Hänfling
(1) Ein Hänfling, den der erste Flug
Aus seiner Eltern Neste trug,
Hob an, die Wälder zu beschauen,
Und zeigte Lust, sich anzubauen;
Ein edler Trieb, denn eigner Herd
Ist, sagt das Sprichwort, Goldes wert.
- Die Fabel beginnt damit, dass ein Hänfling, also ein kleiner Vogel, erstmals das Nest verlässt.
- Er will sich ein eigenes Zuhause aufbauen.
- Dahinter steckt die Sehnsucht nach einem eigenen Besitz.
—
(2) Die stolze Glut der jungen Brust
Macht ihm zu einem Eichbaum Lust.
Hier wohn‘ ich, sprach er, wie ein König,
Dergleichen Nester gibt es wenig.
Kaum stand das Nest, so ward’s verheert,
Und durch den Donnerstrahl verzehrt.
- Der fühlt ein inneres Feuer in sich
- und will deshalb sein Nest in einem großen Eichbaum bauen.
- Besonders freut ihn, dass er dort „wie ein König“ leben kann
- und etwas Außergewöhnliches hat, weil es ein solches Nest selten gibt.
- Er erfährt dann auch schmerzlich, warum kein anderer Vogel dort ein Nest baut,
- weil nämlich solch ein hoher Baum besonders blitzgefährdet ist.
—
(3) Es war ein Glück bei der Gefahr,
Dass unser Hänfling auswärts war,
Er kam, nachdem es ausgewittert,
Und fand die Eiche halb zersplittert.
Da sah er mit Bestürzung ein,
Er könne hier nicht sicher sein.
- Die dritte Strophe zeigt dann, dass er durch einen Zufall überlebt hat.
- Am Ende steht die Einsicht, dass es bei einer Eiche keine Sicherheit gibt.
—
(4) Mit umgekehrtem Eigensinn
Begab er sich zur Erde hin,
Und baut‘ in niedriges Gesträuche,
So scheu macht ihn der Fall der Eiche.
Doch Staub und Würmer zwangen ihn,
Zum andern Mal davon zu ziehn.
- Jetzt versucht er das Gegenteil
- und baut sich ein Nest ganz nah am Boden.
- Doch auch dort gibt es Probleme, diesmal von Würmern.
- Und so muss er sich noch einmal nach etwas Neuem umsehen.
—
(5) Da baut‘ er sich das dritte Haus,
Und las ein dunkles Büschchen aus,
Wo er den Wolken nicht so nahe,
Auch nicht die Erde vor sich sahe,
Ein Ort, der in der Ruhe liegt;
Da lebt er noch, und lebt vergnügt.
- Diesmal ist er klüger und wählt sich einen dunklen Busch aus,
- der gleich weit entfernt ist vom Himmel und von der Erde.
- Dort kann er ruhig und glücklich leben.
—
Vergnügte Tage findet man,
Woferne man sie finden kann,
Nicht auf dem Thron und nicht in Hütten;
Kannst du vom Himmel es erbitten,
So sei dein eigner Herr und Knecht,
Dies bleibt des Mittelstandes Recht.
- Die letzte Strophe präsentiert dann die Moral:
- Zunächst wird klar gemacht, dass es nicht selbstverständlich ist, ein schönes Leben zu finden.
- Dann wird noch mal betont, dass es das – wenn man es findet – nicht ganz oben und nicht ganz unten findet.
- Am Ende dann die klare Aussage: Man soll sein „eigner Herr und Knecht“ sein, sich also gleich weit von denen ganz oben und von denen ganz unten fernhalten.
- Das wird als das Recht des „Mittelstandes“ bezeichnet. Damit meint der Dichter sicher nicht den heutigen Mittelstand, also Handwerker, Beamte u.ä., sondern eben einen Stand zwischen den Extremen.
- Das macht die Fabel jetzt spannend: Was kann damit für uns heute noch gemeint sein?
- Das muss jeder für sich selbst herausfinden 🙂