Worum es hier geht:

Auf der Seite
haben wir einen in diesem Zusammenhang einen Zeitungsbericht präsentiert, der die Sicht unseres ebenfalls fiktiven Profi Freistein auf den Roman „Heimsuchung“ verdeutlicht.
Hier nun im gleichen Zusammenhang der persönliche Hintergrund von Freistein: Warum reagiert er so auf den Roman?
Klarfurter Nachrichten vom 22.10.25
Schülergespräch
„Warum sollen wir uns überhaupt noch für Humanität interessieren?“ – Ein Gespräch mit Professor Anders Freistein
Von Leon H., Klasse 12, Schülerredaktion
Leon: Herr Professor Freistein, viele haben nach Ihrem Vortrag gesagt, Sie hätten Heimsuchung „völlig anders“ präsentiert, als es im Unterricht üblich ist. Warum?
Freistein: (lacht leise) Vielleicht, weil ich den Roman nicht als Prüfungsstoff, sondern als Lebenszeichen lese. In der Schule sucht man oft nach Strukturen, Themenfeldern, Formmerkmalen – und das ist ja legitim. Aber Literatur lebt davon, dass sie Menschen berührt, nicht nur Systeme bestätigt.
Ich wollte zeigen, dass hinter jedem Text eine Erfahrung steckt, ein Blick auf die Welt. Und umgekehrt bringt jeder Leser seine Welt mit hinein. Das, was man „Interpretation“ nennt, ist also nie neutral. Es ist – wie ich manchmal sage – die Hermeneutik unserer eigenen Vergangenheit.
Leon: Das klingt sehr persönlich. Würden Sie sagen, Ihr Zugang hängt mit Ihrer eigenen Geschichte zusammen?
Freistein: Natürlich. Ich bin in einer sehr strengen, evangelikal-pietistischen Umgebung aufgewachsen. Das war eine Welt voller Regeln, voller Gewissheiten – und ebenso voller Risse. Irgendwann merkte ich, dass viele dieser Gewissheiten mehr Angst als Erkenntnis erzeugten. Also habe ich gelernt, Fragen zu stellen.
Aber das Merkwürdige ist: Die Fragen haben mir den Glauben nicht genommen, sie haben ihn vertieft – nur dass ich ihn heute nicht mehr als System verstehe, sondern als Gespräch. Zwischen Gott und dem, was Menschen tun. Zwischen Tradition und Erfahrung.
Leon: Und das hat mit dem Roman zu tun?
Freistein: Sehr. Heimsuchung zeigt uns eine Welt, in der der Sinn verschwunden zu sein scheint. Alles vergeht: Menschen, Häuser, Ideologien. Aber ich frage mich: Ist der Sinn wirklich weg? Oder sehen wir ihn bloß nicht, weil wir verlernt haben, ihn zu suchen?
Deshalb habe ich diese kleine Szene mit dem DDR-Beamten so betont – diesen unscheinbaren Moment, in dem jemand einfach menschlich handelt. Da flackert etwas auf, was Goethe das Göttliche im Menschen genannt hat.
Das ist kein religiöser Beweis, sondern eine anthropologische Tatsache: Menschen können gut sein – manchmal sogar gegen ihre eigenen Systeme.
Leon: Aber in der Philosophie würde man sagen, das sei naiv.
Freistein: (lächelt) Ja, weil viele Philosophen über ihren Begriffen das Leben vergessen. Sie betrachten ihre Gedanken wie Architekten ihre Modelle – mit großem Respekt, aber ohne Wetter, ohne Wind.
Ich finde: Man sollte einen Gedanken nur dann ernst nehmen, wenn man auch die Geschichte kennt, aus der er kommt. Sonst steht man staunend vor den Gerüsten – und merkt nicht, dass jemand darin gewohnt hat.
Leon: Also plädieren Sie für mehr Leben in der Theorie?
Freistein: Für mehr Leben überall. In der Schule, in der Philosophie, in der Kunst. Bildung heißt nicht, den Kopf zu senken, um den Kanon zu studieren, sondern den Blick zu heben, um Sinn zu suchen. Und Sinn entsteht, wenn wir das, was wir erfahren, in Beziehung setzen – zu uns, zu anderen, zu der Welt.
Leon: Letzte Frage: Was wünschen Sie sich, dass Schüler aus Ihrem Vortrag mitnehmen?
Freistein: Vielleicht nur dies: Dass Bildung nicht aus Ergebnissen besteht, sondern aus Bewegungen. Und dass Humanität kein Fach ist, sondern eine Haltung.
Wenn ein Schüler nach dem Abitur sagen kann: Ich weiß nicht alles, aber ich weiß, dass Fragen kostbar sind – dann ist das mehr wert als jede Note.