Jan Wagner, Unterwegs im Nebel – was kann man bei dem Gedicht schnell herausbekommen? (Mat8691)

Worum es hier geht:

Aktueller Nachtrag für die Abiturjahrgänge 2025ff
Es gibt ja immer noch erstaunlich viele Zugriffe auf diese Seite.
Das freut uns,
es wäre aber auch schade, wenn wir unsere Hilfestellung nicht auch denen anbieten könnten, die das Abitur noch nicht hinter sich haben.
Wir freuen uns immer über Fragen und Anregungen – und gehen auch gerne darauf ein.
Hier die Bereiche, in denen wir uns ganz gut auskennen:
Darunter dann die einfachste Möglichkeit, uns über einen Kommentar zu erreichen.
Wir würden uns freuen 🙂

Nun zum Ausgangspunkt dieser Seite und zum Abitur 2024

Im Zentralabitur Bayern soll im April das folgende Gedicht drangekommen sein.

Ganz gleich, ob es stimmt, es ist eine der Herausforderungen, die wir so lieben.

Freundlicherweise hat der Verlag einen Teilabdruck des Gedichtbandes hier veröffentlicht:
https://files.hanser.de/Files/Article/ARTK_LPR_9783446250758_0001.pdf

Dort ist das Gedicht auf S. 19 von 26 zu finden.

Aus urheberrechtlichen Gründen verzichten wir auf den Abdruck hier, sondern spielen bei dem Gedicht mal den Speed-Trainings-Prozess durch, den wir vor kurzem in einem Video vorgestellt haben.

Trigger-Warnung:

Alle, die sich nur einfach freuen wollen nach der Klausur, sollten das Folgende vielleicht nicht lesen – denn wir können uns irren und vielleicht falsche Hoffnungen oder aber auch Befürchtungen wecken.

Weil wir aber gebeten worden sind, uns mit dem Gedicht mal zu beschäftigen, machen wir das jetzt mal einfach.

Der Reiz ist für uns einfach zu groß.

Das führt dazu, dass wir das Gedicht vor allem unter dem Aspekt der Leserlenkung betrachten.

Wir freuen uns natürlich über weitergehende Hinweise derer, die sich viel intensiver als wir in etwa 15 Minuten mit dem Gedicht beschäftigt haben.

Zur Überschrift:
  • Die Überschrift nennt nur ungefähr eine Situation, die durch zwei Elemente bestimmt ist:
    • zum einen durch das Unterwegs-Sein, möglicherweise im Auto.
    • Und dann gibt es Nebel.
    • Mit dem sind auf jeden Fall mögliche Gefahren verbunden.
    • Der Autofahrer kann in einen Unfall verwickelt werden, der Wanderer kann sich verirren
Anmerkungen zur Strophe 1:
  • Die erste Strophe klärt dann die Situation in Richtung Erlebnis auf der Autobahn.
  • Es folgen etwas seltsame Vorstellungen, die in Frageform präsentiert werden. Zum einen geht es um eine Aufwärtsbewegung der Autobahn in die Wolken hinein, was einem natürlich erst mal fantastisch vorkommt.
  • Noch seltsamer ist aber dann die Gegenbewegung, nämlich der Hinweis auf Wolken, die – Personifizierung – sich entschlossen haben, den „Schlaf von Jahrhunderten zwischen uns nachzuholen“.
  • Am leichtesten verständlich wird das, wenn hier einfach dichter Nebel beschrieben wird, in einer Übertreibung mithilfe des Bildes von einem Schlaf von Jahrhunderten.
  • Dies klärt auch die erste Vorstellung von der aufstrebenden Autobahn, denn das Aufgehen im Neben kann man durchaus als ein Aufsteigen verstehen.
Anmerkungen zur Strophe 2:
  • Wenn man das erst mal verstanden hat, ist die zweite Strophe leichter zu verstehen.
  • Denn jeder kann nachvollziehen, dass man im Nebel seine Scheinwerfer durchaus auf „klägliche Insektenfühler“ reduziert sehen kann.
  • Dass die Sonne verborgen ist und gesucht wird, ist auch klar.
  • Abschließend dann der allgemeine Hinweis auf das sich ausbreitende Gefühl, dass alles eben kleiner und enger wird.
Anmerkungen zur Strophe 3:
  • Die dritte Strophe konkretisiert dann die Perspektive durch einen Blick auf die Armaturen, deren Licht wahrscheinlich in dieser Nebel-Landschaft noch unwirklicher wirkt als normal.
  • Es folgt die Vorstellung, dass dieses Licht jetzt nur noch Waben aus Blech erhellt,
  • ein schönes Bild für das bisschen Sicherheit, dass nur noch vorhanden ist.
  • Dazu kommt das Wabenbild für das Eingeschlossensein.
  • Noch einmal dann der Hinweis, dann auf die klein gewordene Welt, die im Wesentlichen nur noch die nächste Fahrbahnmarkierung erfasst.
  • Ein schöner Einfall ist dann auch, die Situation als einen beschränkten Horizont zu beschreiben, der gerade mal zu den Bremsleuchten des Vordermanns reicht. Sehr passend zur Tier-Metaphorik ist dann auch die Vorstellung des Kriechens.
  • Auch die Vorstellung, dass die müden Blicke sich gewissermaßen per Seil am Vordermann festmachen, kann sicherlich von den meisten Leuten gut nachvollzogen werden
Anmerkungen zur Strophe 4:

Die nächste Strophe geht dann auf das ein, was das Autoradio noch präsentiert. Nicht ganz klar ist dann die Verbindung mit der Vorstellung einer Brücke, die anscheinend mehr verspricht, als jetzt gegeben ist. Auch das kann man natürlich vor dem Hintergrund des Nebels verstehen.

Anmerkungen zur Strophe 5:
  • Die nächste Strophe wendet sich dann dem Gegenverkehr zu und empfindet einen dort fahrenden LKW als lautlos und rätselhaft.
  • Das wiederum führt zu dem Fantasiebild eines Wales, der kurz mal eben aus dem Meer auftaucht.
Anmerkungen zur Strophe 5:
  • Die nächste Strophe überträgt das dann auf die eigene Situation in dieser Nebelatmosphäre.
  • Das lästige Naturphänomen wird verbunden mit der Vorstellung eines Schildes an der Hoteltür, das jede Störung ausschließen will.
Anmerkungen zur letzten Zeile:
  • Die letzte Zeile zeigt dann die Reduzierung des Bewusstseins des lyrischen Ichs. Es spricht nur noch von irgendeinem Hotel und von einer Stadt ohne Namen.
Insgesamt :
  • ein Gedicht, das die Situation bei einer Autofahrt auf der Autobahn im Nebel sehr fantasievoll und gefühlsintensiv ausgestaltet.
  • Das ist der große Vorzug dieses Gedichtes.
  • Der große Nachteil scheint auf den ersten Blick zu sein, dass es darüber nicht hinausgeht.
  • Aber vielleicht fällt uns dazu noch mehr ein, vor allem wenn wir recherchiert haben, was es mit der „probebohrung im himmel“ auf sich hat.
  • Aber auch das Bild gefällt uns – so verstehen wir hier unseren Speed-Dating-Beitrag zu dem Gedicht auch 😉

Update 18:40 Uhr – Richtung Interpretation

In einem Kommentar zu unserem Video ist folgender Interpretationsvorschlag gemacht worden, den wir hier kurz zusammenfassen:

  1. Idee, man könne das Gedicht als Kritik am technischen Fortschritt und der Beeinflussung durch Computer und Internet verstehen.
  2. Der Nebel stehe dann für das Internet, der die Menschen umgibt und in einen Wabenkäfig einsperrt, woraus es kein Entkommen gibt.

Dazu zunächst einige Anmerkungen auf der Analyse-Ebene:

  • Immerhin ist von Wolken die Rede – ob das Cloud-Phänomen zur Zeit der Entstehung des Gedichtes, wohl vor 2001, schon bekannt ist, macht letztlich nichts, weil es ja um die heutige Ebene des Verständnisses geht. Darum wehren wir uns ja auch immer dagegen, Gedichte gleich als historische, also auf eine Zeit fixierte Gebilde zu betrachten.
  • Statt der Sonne gibt es nur noch das spärliche Licht der Armaturen – die Nutzer werden aneinandergekettet – heute würden wir sagen – durch soziale Netzwerke. Damit sind die Leute beschäftigt und müssen an Ampeln, wie man hört, sogar durch im Boden eingelassene Lichtbalken auf die Farben aufmerksam gemacht werden.
  • Dann bei den Radiofrequenzen der Verdacht, dass die nur vorgeben, das „tor nach draußen zu sein.“
  • Dann am Ende der Hinweis auf einen Nebel, „den man beharrlich über uns hängen ließ“.
  • Die Zeile mit Hotel und Stadt deutet dann Beliebigkeit an, wie sie auch als Kennzeichen der Internet-Welt angesehen werden kann.
  • Und das „bitte nicht stören“ steht dann auch noch mal für Abgeschlossenheit, nur über Frequenzen verbunden mit irgendwas und irgendwem, von dem man nicht weiß, ob es echt ist.
  • Fazit: Wir waren erst sehr skeptisch – aber je mehr wir uns mit dem Ansatz beschäftigt haben, desto mehr fing er an, für uns stimmig – oder zumindest möglich zu werden.
  • Von daher hoffen wir mal mit dem Erfinder des Gedankens, dass entweder seine Idee schon als Möglichkeit im Punktekatalog des Erwartungshorizonts angelegt ist – oder er aber auf einsichtige Lehrkräfte stößt, die alles an Zusatzpunkten vergeben, was nur möglich ist.
  • Denn eins steht fest: Für dieses Gedicht gilt wirklich: Kunst wird erst komplett, wenn einer über ihre Grenzen hinaus Sinnmöglichkeiten entdeckt.

Update 23:01 Uhr – Richtung Traum

  • Dann hat jemand im Kommentar geschrieben, dass er die Bilder und eine gewisse Verwirrung als Traum verstanden hat.
  • Zunächst waren wir da skeptisch, weil unsere Erklärungen näher am Text sind, also ohne das Hilfsmittel Traumvorstellung auskommen.
  • Außerdem waren wir kurzzeitig der Meinung, dass ähnlich wie bei der Ironie zur Feststellung entsprechende Signale im Text sein müssen, sonst ist das letztlich willkürlich oder problematisch eigenwillig 😉
  • Dann ist uns allerdings unser Kafka eingefallen, dessen Erzählungen wir ja fast immer als in der Regel unangenehme, bedrohliche Träume interpretieren.  Und der gute Kafka spricht auch nicht von Traum – sondern seine Erzählungen sind nur so verständlich – einfach, weil sie sich zu sehr von der Realität entfernen.
  • Also: Langer Rede kurzer Sinn: Wichtig ist, die eigene Erklärung möglichst als notwendig darzustellen und sie nachvollziehbar zu präsentieren.

Update 29.4.2024- Abschließende Einschätzung

  1. Das Besondere bei diesem Gedicht ist, dass es von sich aus keinen Sinn andeutet, in gewisser Weise bedeutungslos ist.
  2. Da ist einer im Nebel unterwegs und er lässt seine Fantasie und seine Assoziationen frei und sehr individuell spielen.
    Das darf ein Schriftsteller.
  3. Leider ist der Deutschunterricht auf solche Gedichte nicht wirklich eingestellt.
    • Dort wird immer nach Sinn gesucht –
    • und wenn ein Gedicht mal keinen liefert,
    • müssen die Schülis sich genauso viel einfallen lassen wie der Schriftsteller, nur nicht im Gedicht, sondern bei der Frage des Sinns, der Interpretation.
  4. Man kann da nur noch gespannt sein, was da im Erwartungshorizont steht.
    • Der muss eigentlich genau diese Spielräume auch zulassen mit entsprechend guten Noten – bei so viel Kreativität wie in diesem Falle – alle Achtung!
  5. Wir werden beim nächsten Abi-Jahrgang versuchen,
    • die Schülis mit diesem Gedicht und den dort gemachten Erfahrungen möglichst optimal auf so eine Situation vorzubereiten –
    • die Lösung besteht dann in drei Schritten:
      • erstens beschreiben, wie „sinnlos“ das Gedicht von sich aus ist,
      • dann eine eigene Sinndeutung entwickeln
      • und schließlich zeigen, inwieweit sie zum Gedicht passt und für uns in unserer heutigen Zeit Sinn anbietet.

Wir haben jedenfalls durch die Kommentar-Diskussion zu diesem Gedicht viel gelernt – danke und alles Gute für die Zukunft 🙂

Und nun noch eine Idee für den nächsten Abiturjahrgang:

Die Erfahrung auch hier: Austausch macht klüger…

Die Beispiele haben uns wieder gezeigt, dass dieses Frage- und Antwortspiel nicht nur – im Idealfall – den Fragesteller klüger macht. Auch wir haben hier wieder etwas dazugelernt – oder es ist uns etwas klarer geworden.

Wenn also jemand Leute kennt, die hin und wieder auch Fragen wie nach dieser Klausur haben, sie sollen sich einfach melden. Dieser Tag heute war für uns das beste Beispiel, dass sich das lohnt.

Näheres findet man auf dieser Seite:
https://schnell-durchblicken.de/langfristige-abiturvorbereitung

Wir wünschen allen, die mit dem Fach Deutsch durch sind – weiterhin viel Erfolg – und dann alles Gute, wenn der sogenannte „Ernst des Lebens“ beginnt – vielleicht ist es ja auch eher die Freude am eigenen „Kunstwerk des Lebens“, wie Rüdiger Safranski in seiner Biografie Goethes Ansatz der Lebensgestaltung genannt hat.

Viel Erfolg 🙂

Fragen und Anregungen können auf dieser Seite abgelegt werden:
https://textaussage.de/schnelle-hilfe-bei-aufgaben-im-deutschunterricht

Ganz zum Schluss: Was Jan Wagner zu Gedichten sagt

Weitere Infos, Tipps und Materialien