Schillers Kritik an Lessings „Nathan der Weise“ (Mat2442)

Schiller und Lessing – Kritik an „Nathan der Weise“

Zunächst das Wichtigste in Kürze:

  • Schiller kritisiert „Nathan der Weise“ als zu kühl und ernsthaft, um als wahre Komödie zu funktionieren,
    • da es weder Leidenschaft
    • noch befreiende Leichtigkeit vermittelt.
  • Er sieht in einer guten Komödie das Ziel, den Zuschauer frei von Pathos und voller Gelassenheit zu halten.
  • Für Schiller hätte Lessing mehr Zufall und Leichtigkeit einbauen sollen, um Nathans Geschichte wirklich zur Komödie zu machen.

Nun die Details

  • In Schillers „Über naive und sentimentalische Dichtung“ gibt es eine Stelle, in der er erklärt, wieso er Lessings Drama „Nathan der Weise“ für misslungen hält.
  • Wir präsentieren hier mal die Stelle und versuchen, sie zu erklären.
  • Zunächst einmal haben wir den Gesamt-Gedankengang zerlegt, dann werden wir versuchen, ihn zu klären.
    (bitte noch etwas Geduld)
  1. „Es ist mehrmals darüber gestritten worden, welche von beiden, die Tragödie oder die Komödie, vor der andern den Rang verdiene.
  2. Wird damit bloß gefragt: welche von beiden das wichtigere Objekt behandle, so ist kein Zweifel, daß die erstere den Vorzug behauptet;
  3. will man aber wissen, welche von beiden das wichtigere Subjekt erfordre, so möchte der Ausspruch eher für die letztere ausfallen. –
  4. In der Tragödie geschieht schon durch den Gegenstand sehr viel,
  5. in der Komödie geschieht durch den Gegenstand nichts und alles durch den Dichter.
  6. Da nun bei Urteilen des Geschmacks der Stoff nie in Betrachtung kommt, so muß natürlicherweise der ästhetische Wert dieser beiden Kunstgattungen in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer materiellen Wichtigkeit stehen.
  7. Den tragischen Dichter trägt sein Objekt,
  8. der komische hingegen muß durch sein Subjekt das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten.
  9. Jener darf einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehöret;
  10. der andere muß sich gleich bleiben, er muß also schon dort sein und dort zu Hause sein, wohin der andre nicht ohne einen Anlauf gelangt.
  11. Und gerade das ist es, worin sich der schöne Charakter von dem erhabenen unterscheidet.
  12. In dem ersten ist jede Größe schon enthalten, sie fließt ungezwungen und mühelos aus seiner Natur, er ist, dem Vermögen nach, ein Unendliches in jedem Punkte seiner Bahn;
  13. der andere kann sich zu jeder Größe anspannen und erheben, er kann durch die Kraft seines Willens aus jedem Zustande der Beschränkung sich reißen.
  14. Dieser ist also nur ruckweise und nur mit Anstrengung frei,
  15. jener ist es mit Leichtigkeit und immer.
  16. Diese Freiheit des Gemüts
  17. in uns hervorzubringen und zu nähren, ist die schöne Aufgabe der Komödie,
  18. so wie die Tragödie bestimmt ist, die Gemütsfreiheit, wenn sie durch einen Affekt gewaltsam aufgehoben worden, auf ästhetischem Weg wiederherstellen zu helfen.
  19. In der Tragödie muß daher die Gemütsfreiheit künstlicherweise und als Experiment aufgehoben werden, weil sie in Herstellung derselben ihre poetische Kraft beweist;
  20. in der Komödie hingegen muß verhütet werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemütsfreiheit komme.
  21. Daher
  22. behandelt der Tragödiendichter seinen Gegenstand immer praktisch,
  23. der Komödiendichter den seinigen immer theoretisch; auch wenn jener (wie Lessing in seinem Nathan) die Grille hätte, einen theoretischen, dieser, einen praktischen Stoff zu bearbeiten.
  24. Nicht das Gebiet, aus welchem der Gegenstand genommen, sondern das Forum, vor welches da Dichter ihn bringt, macht denselben tragisch oder komisch.
  25. Der Tragiker muß sich vor dem ruhigen Räsonnement in acht nehmen und immer das Herz interessieren;
  26. der Komiker muß sich vor dem Pathos hüten und immer den Verstand unterhalten.
  27. Jener zeigt also durch beständige Erregung,
  28. dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst;
  29. und diese Kunst ist natürlich auf beiden Seiten um so größer, je mehr der Gegenstand des einen abstrakter Natur ist und der des andern sich zum Pathetischen neigt (Fußnote s.u.).
  30. Wenn also
  31. die Tragödie von einem wichtigern Punkt ausgeht,
  32. so muß man auf der andern Seite gestehen, daß die Komödie einem wichtigern Ziel entgegengeht, und sie würde, wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen. Ihr Ziel ist einerlei mit dem Höchsten, wornach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“

Schillers Fußnote zu Nathan:

  1. „Im »Nathan dem Weisen« ist dieses nicht geschehen, hier hat die frostige Natur des Stoffs das ganze Kunstwerk erkältet.
  2. Aber Lessing wußte selbst, daß er kein Trauerspiel schrieb, und vergaß nur, menschlicherweise, in seiner eigenen Angelegenheit die in der »Dramaturgie« aufgestellte Lehre, daß der Dichter nicht befugt sei, die tragische Form zu einem andern als tragischen Zweck anzuwenden.
  3. Ohne sehr wesentliche Veränderungen würde es kaum möglich gewesen sein, dieses dramatische Gedicht in eine gute Tragödie umzuschaffen;
  4. aber mit bloß zufälligen Veränderungen möchte es eine gute Komödie abgegeben haben.
  5. Dem letztern Zweck nämlich hätte das Pathetische, dem erstern das Räsonierende aufgeopfert werden müssen, und es ist wohl keine Frage, auf welchem von beiden die Schönheit dieses Gedichts am meisten beruht.
  6. Das Ziel der Komödie ist:
    „Ihr Ziel ist einerlei mit dem Höchsten, wornach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen, überall mehr Zufall als Schicksal zu finden und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“

Erste Idee eines Verständnisses:

  1. Schiller glaubt, dass der Gegenstand einer Tragödie schon das Entscheidende leiste, damit da etwas Gutes draus wird. Wer sich also z.B. mit Maria Stuart beschäftigt, kann gar nicht mehr viel falsch machen.
  2. Bei der Komödie muss der Dichter dagegen alles, was wirkt, in den Stoff hineinlegen.
  3. Die Komödie erhält die Zuschauer dauerhaft in Freiheit, also auch bei guter Laune.
  4. Die Tragödie allerdings reißt den Zuschauer mit dem Helden oder der Heldin erst mal herunter, bevor er sich mit ihm oder ihr im Idealfall wieder aufrichten kann.
  5. Der Tragödiendichter muss immer das Herz interessieren, also die Gefühle erregen, während es beim Komödiendichter umgekehrt ist: Der muss sich „vor Pathos hüten und den Verstand unterhalten.“
  6. Was „Nathan“ angeht, so passt für Schiller der „frostige Stoff“ nicht zum Ziel der Komödie, wofür er Lessings Theaterstück hält.
  7. Schiller meint, eine Tragödie hätte man gar nicht draus machen können, wohl aber mit ein bisschen Veränderung eine Komödie.
  8. Für Schiller hätte Nathan das Pathetische rausnehmen sollen.
  9. Wichtig ist der Schluss der Kritik:
  10. Das Ziel der Komödie ist:
  11. „ist einerlei mit dem Höchsten, wornach der Mensch zu ringen hat, frei von Leidenschaft zu sein,
  12. immer klar, immer ruhig um sich und in sich zu schauen,
  13. überall mehr Zufall als Schicksal zu finden
  14. und mehr über Ungereimtheit zu lachen als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“
  15. Und das kann man jetzt an Nathan abprüfen:
  • Tatsächlich ist nicht viel von Leidenschaft zu sehen, die liegt vor dem Stück, als Nathan seine Familie verliert.
  • Nathan ist auch immer „klar, immer ruhig“ und schaut um sich herum.
  • Dann gibt es eine Menge Zufälle. Zum Beispiel kommt das Buch mit dem Verwandtschaftsüberblick genau zum richtigen Zeitpunkt.
  • Es gibt mehr Ungereimheitheiten als Bosheit. Selbst der Patriarch fängt ja gleich an zu zittern, als er hört, dass der Tempelherr zum Sultan darf.

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