Algerien und Frankreich – Geschichte Perspektiven der Beziehung (Mat1929-29-5-auf)

Worum es hier geht:

Die Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich gehören zu den komplexesten auf der internationalen Bühne.

Sie sind tief in einer schmerzhaften kolonialen Vergangenheit verwurzelt, die von Ungleichheit, Gewalt und noch immer lebendigen Traumata geprägt ist. Seit Algerien 1962 unabhängig wurde, schwankt das Verhältnis ständig zwischen politischen Spannungen, Erinnerungskrisen und strategischen Annäherungen.

Historischer Überblick: Die Kolonialzeit und der Unabhängigkeitskrieg

Wir werten hier ein Video aus, das auf Youtube hier zu finden ist:
https://www.youtube.com/watch?v=HCqsiKYFH0k

1:09 Beginn der Kolonialisierung

Die Geschichte dieser Beziehungen reicht fast zwei Jahrhunderte zurück und ist geprägt von tiefen Verbindungen, aber auch anhaltenden Spannungen.

  • 1830: Frankreich marschiert unter dem Vorwand, die Piraterie zu bekämpfen, in Algier ein. Diese Militäroperation markierte den Beginn der Kolonialisierung Algeriens, die sich rasch zu einer gewaltsamen Eroberung entwickelte.
  • Das algerische Territorium wurde schrittweise in Frankreich integriert.
  • Strukturelle Ungleichheit: Diese Integration war zutiefst ungleich. Die französischen Kolonisten, die sogenannten Pieds-Noirs, ließen sich nieder und genossen weitreichende Rechte. Der algerischen Mehrheit wurde jedoch die Staatsbürgerschaft verweigert, es sei denn, sie waren bereit, ihre Kultur und Religion aufzugeben.

Unabhängigkeit – Erkämpfung und Entwicklung

1:55 Der Weg zur Unabhängigkeit

Die strukturelle Ungerechtigkeit führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem klaren Willen zur Unabhängigkeit.

  • 1945: Demonstrationen in Sétif und Guelma wurden von französischen Behörden gewaltsam niedergeschlagen, wobei mehrere tausend Menschen starben.
  • 1. November 1954: Offizieller Beginn des Unabhängigkeitskrieges durch koordinierte Angriffe der FLN (Nationalen Befreiungsfront). Der Konflikt dauerte fast acht Jahre und war von extremer Brutalität gekennzeichnet.
  • 1958: General De Gaulle kam wieder an die Macht und leitete schrittweise einen Prozess der Selbstbestimmung ein, da die Lage aussichtslos wurde.
  • März 1962: Die Abkommen von Évian wurden nach mehreren Putschversuchen gegen die Unabhängigkeit unterzeichnet.
  • 5. Juli 1962: Algerien erlangte offiziell die Unabhängigkeit.

3:02 Nach der Unabhängigkeit: Bruch und Ambivalenz

Die Unabhängigkeit war ein brutaler Wendepunkt.

  • Über eine Million Pieds-Noirs verließen Algerien überstürzt.
  • Zehntausende Harkis (Algerier, die an der Seite Frankreichs gekämpft hatten) wurden von Frankreich weitgehend im Stich gelassen.
  • Obwohl der Bruch vollständig erschien, blieben die wirtschaftlichen Beziehungen bestehen.
  • Algerien wählte ein sozialistisches Modell, näherte sich dem Sowjetblock an und verfolgte eine unabhängige Außenpolitik. Dennoch blieb Frankreich ein wichtiger Wirtschaftspartner.
  • Frankreich nahm ab den 1960er Jahren zahlreiche algerische Einwanderer auf, um den Bedarf des industriellen Wiederaufbaus zu decken. Diese Bevölkerungsgruppen aus der Kolonialzeit wurden jedoch oft marginalisiert, was dazu beitrug, dass die konfliktreichen Erinnerungen weiterlebten.

Die Herausforderung der Erinnerung und Jüngere Entwicklungen

4:08 Die Erinnerungskrise

Die Frage der Erinnerung ist das zentrale Problem, das die Beziehungen nachhaltig „vergiftet“. Frankreich hat lange gezögert, die Verbrechen im Zusammenhang mit der Kolonialisierung und dem Krieg anzuerkennen.

  • 2005: Ein französischer Gesetzesentwurf, der die „positive Rolle“ der Kolonialisierung lobte, löste in Algerien große Empörung aus.
  • 2012: Präsident François Hollande unternahm einen historischen Schritt und erkannte das dem algerischen Volk zugefügte Leid an.
  • 2021: Emmanuel Macron ging noch weiter und bezeichnete die Kolonialisierung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Er kritisierte jedoch gleichzeitig das politisch gedächtnisbezogene System Algeriens, was zu einer diplomatischen Krise führte.

Die Beziehung ist auch heute noch von dieser schmerzhaften gemeinsamen Geschichte geprägt. In Frankreich lebt eine große Gemeinschaft algerischer Herkunft; viele junge Franco-Algerier fordern die vollständige Anerkennung ihrer Geschichte.

 

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Jüngste Eskalationen (Stand 2025)

Im Jahr 2025 erscheinen die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien fragiler denn je [23, 11:10]. Die jüngsten diplomatischen Krisen verdeutlichen die extreme Sensibilität des Verhältnisses.

5:43 Die Westsahara-Krise (Oktober 2024)

  • Im Oktober 2024 traf Emmanuel Macron die diplomatische Entscheidung, die Souveränität Marokkos über die Westsahara anzuerkennen.
  • Algerien unterstützt die Polisario-Front, die für die Selbstbestimmung der Westsahara kämpft.
  • Die Anerkennung wurde als ausdrückliche Unterstützung Marokkos wahrgenommen und rief eine sofortige Reaktion Algeriens hervor.
  • Algier rief seine Botschafter aus Paris zurück und reduzierte die diplomatische Vertretung, da es die Entscheidung als kontraproduktiv und unangebracht ansah.

6:56 Die Boalem Sansal Affäre (März 2025)

  • Kaum einen Monat nach der Westsahara-Krise wurde Boalem Sansal, ein französisch-algerischer Schriftsteller, der für seine Kritik am algerischen Regime bekannt ist, in Algerien festgenommen.
  • 27. März 2025: Er wurde zu fünf Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt, unter dem Vorwurf, gegen die territoriale Integrität verstoßen zu haben.
  • Das Urteil wurde in Frankreich als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit angesehen und löste heftige Reaktionen aus.
  • Macron forderte die Freilassung Sansals. Die Affäre verschärfte die Spannungen auf diplomatischer Ebene.

8:44 Die Amir DZ Affäre und Diplomatenausweisungen (März/April 2025)

  • März 2025: Algerien forderte die Ausweisung von 12 Mitarbeitern der französischen Botschaft.
  • Dies geschah als Reaktion auf die Festnahme von drei algerischen Staatsangehörigen in Frankreich, denen vorgeworfen wurde, versucht zu haben, Amier Bukurus (auch bekannt als Amir DZ), einen kritischen algerischen Influencer im Exil, zu entführen.
  • Amir Bukurus, der in Frankreich politisches Asyl erhielt, ist dem algerischen Regime kritisch gegenüber. Er wurde im April 2024 Opfer eines Entführungsversuchs.
  • Algier prangerte die Verletzung der konsularischen Immunität an und wies zwölf französische Diplomaten aus.
  • Paris bezeichnete diese Ausweisung als unverhältnismäßig und drohte mit Vergeltungsmaßnahmen.
  • Daraufhin wies Frankreich zwölf algerische Konsularbeamte aus, was die Spannungen weiter verschärfte.

10:34 Geopolitische Unterstützung für Algerien

  • Vor diesem Hintergrund bezog Russland Stellung und bekundete seine Unterstützung für Algerien in dessen Bemühungen um die Anerkennung der Verbrechen, die während der französischen Kolonialherrschaft von 1830 bis 1962 begangen wurden.
  • Russland unterstützt auch die Bemühungen Algeriens um Wiedergutmachung für die Folgen des Kolonialismus und Neokolonialismus.

Fazit:

Obwohl Versöhnungsgesten wie der Besuch Macrons im Jahr 2022 versucht haben, die Spannungen zu entschärfen, sind die Wunden der Vergangenheit immer noch frisch. Die Beziehungen bleiben komplex, geprägt von tiefen menschlichen Bindungen, aber auch von Misstrauen und historischen Ressentiments. Der Konflikt der Erinnerungen kollidiert dabei mit aktuellen geopolitischen Herausforderungen.

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