Anders Tivag, „Macht Schluss mit den Debatten, sie sind der Tod der Demokratie“ (Mat8709)

Anders Tivag

Macht Schluss mit den Debatten, sie sind der Tod der Demokratie

  1. Natürlich ist diese Überschrift provokativ. Denn Debatten gelten ja als Höhepunkt jeder Sitzung einer Volksvertretung.
  2. Doch was setzen Debatten voraus? Eine feste Meinung, die man entweder übernommen hat oder übernehmen musste, weil man zum Beispiel einem Fraktionszwang unterliegt.
  3. Die parlamentarische Demokratie ist aus guten Gründen so organisiert, dass die vielen Abgeordneten sich in festen Gruppen befinden, so dass eine gewisse Stabilität der Meinungsbildung und Entschlussfindung gegeben ist.
  4. Aber diese Stabilität hat einen entscheidenden Nachteil, sie verhindert wirklichen Austausch und damit eine Optimierung der Meinungsbildung.
  5. Jetzt hat man auch noch in den Schulen mit dem Debattieren angefangen. Glücklicherweise geht es dabei in der Regel nicht um wirklich ernste Dinge, die auch mit Entscheidungen verbunden sind.
  6. Trotzdem ist das Ziel der Debattenredner, die eigene Sichtweise durchzubringen und gewissermaßen die andere Seite niederzuringen.
  7. Ganz nebenbei führt das natürlich auch zu den üblichen rhetorischen Tricks, die eher auf das Überreden hinauslaufen als auf das Überzeugen.
  8. Am schlimmsten aber ist, dass gewissermaßen beide Seiten einbetoniert sind und nur noch mehr oder weniger geschickt das absondern, was die eigene Position unterstützt und die Gegenposition schwächt.
  9. Dabei ist doch jedes Argument nur so viel wert, wie es nicht durch ein anderes eingeschränkt wird. Nur auf diesem dialektischen Erkenntnisprozess von  von These und Gegenthese und beider „Aufhebung“ in der Synthese kommt man  zu einer noch besseren Lösung, als die beiden Ausgangspositionen zu bieten hatten.
  10. Statt der Debatten sollte man lieber – durchaus kontroverse  – Gespräche organisieren, bei denen beide Seiten deutlich machen, an welchen Stellen, in welcher Richtung und in welchem Ausmaß sie die eigene Position abwandeln.
  11. Letztlich sollte die Seite zumindest der moralische Sieger sein, die am meisten aus dem konträren Gespräch gelernt hat – und lernen heißt ja bekanntermaßen Veränderung der Einstellung und des Verhaltens.
  12. Wenn das in der Schule schon gelernt würde, dann würden vielleicht auch Gespräche im privaten Bereich anders ablaufen. Auch dort findet man ja häufig das Phänomen, dass man es als Gefährdung oder gar Niederlage ansieht, wenn eine andere Meinung einen im wahrsten Sinne des Wortes eines Besseren belehrt.
  13. Das mit dem „belehren“ ist sicherlich keine schöne Formulierung, aber letztlich hängt doch aller Fortschritt damit zusammen, dass Menschen bessere Ideen entwickeln, die dann auch von anderen mehr oder weniger angepasst übernommen werden.
  14. Von daher noch mal der Vorschlag: statt der Debatten kontroverse Gespräche in der Schule durchzuführen, bei denen es nicht um das gewinnen geht, sondern um das Lernen im Sinne der Anpassung der eigenen Position an Einsichten, die man im Austausch gewinnen konnte.
  15. Vielleicht lässt sich ja auch in der parlamentarischen Demokratie einiges ändern, so dass derjenige Redner am meisten beklatscht wird, der einem anderen von der kontroversen Gegenseite zustimmt, weil er durch ihn zumindest ein bisschen klüger geworden ist und am Ende eine noch bessere Lösung möglich wird.

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