Andrea Bigge, „Der rote Schal“ – Beispiel für die Annäherung an die Aussage einer Kurzgeschichte (Mat7166)

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Heute erreichte uns zum Beispiel die Frage, wie man die Kurzgeschichte „Der rote Schal“ von Andrea Bigge analysieren und interpretieren könnte.

Als Quelle wurde angegeben:
Eine fremde Frau. – Freundlich, aber fremd. – Eben fremd.“ (aus: Befunde X, Texte des internationalen Kurzgeschichten-Wettbewerbs 1987 der Stadt Arnsberg, Arnsberg 1988, S. 78.

Wie wir vorgehen:

Dann legen wir doch einfach mal los. Den Text der Kurzgeschichte stellen wir aus urheberrechtlichen Gründen hier nicht rein – wir machen aber deutlich, auf welchen Abschnitt wir uns beziehen. Die entsprechenden Textzitate erscheinen in kursiver Schrift.

Schritt 1: Geschichte lesen und dabei darauf achten, wo etwas Neues beginnt.

Außerdem machen wir uns auch schon Gedanken zu den jeweiligen Abschnitten.

Wichtig erscheint uns, das fortlaufend zu tun – auch wenn sich ein Gedanken dann auch gleich auflöst, wie es an einer Stelle geschieht.

Anmerkungen zu den Abschnitten

Andrea Bigge

Der rote Schal

  1. Auf dem Rückweg […] in den Regen.
    • Typischer Kurzgeschichten-Einstieg: direkt, ohne Nennung von Namen. Dazu auch noch kurze Sätze im Stil von Alltags-Erzählung.
    • Zwei wichtige Hinweise: Die Frau reagiert anscheinend auf die Aufmerksamkeit des Mannes positiv – aber an diesem Tag nicht. Das wird in einen Zusammenhang mit dem aktuellen Regen gebracht, der die Frau aus irgendeinem Grund zum Träumen veranlasst.
  2. „Mit dem Hund […] einmal verspätet.“
    • Wechsel von Person und Perspektive: Jetzt geht es um die Frau, auf deren Lächeln hier jemand wartet.
    • Präsentiert werden die Gedanken der Frau. Offensichtlich interessiert sie sich genauso für den Mann wie der für sie.
  3. Für einen zuverlässigen Mann […] dachte er.
    • Erzähltechnisch ist hier interessant, dass der Mann auf die Gedanken der Frau reagiert, als würde er sie kennen.
    • Er setzt in diese Verbindung gewisse Hoffnungen.
    • Dann ein Gedanke, der für den Leser erst mal unklar bleibt: Der Mann denkt darüber nach, dass er am Mittwoch bei diesem Regen zu Hause geblieben wäre – warum auch immer.
  4. Mittwochs, ja mittwochs […] da.
    • Hier wird die Mittwochsfrage aufgelöst. Deutlich wird, dass der Mann anscheinend Regen auf sich nimmt, nur um die Frau zu sehen. Er weiß, sie sitzt am Mittwoch nicht am Fenster, also erspart er sich auch den Regen.
    • Offen bleibt die Frage, was mit dem Hund am Mittwoch bei Regen geschieht.
    • Insgesamt macht der Leser sich wahrscheinlich vor allem Gedanken um diese Frau: Ist sie krank, alt oder arbeitslos – oder hat sie so viel Geld, dass sie gar nicht arbeiten muss, ist aber so einsam, dass dieser Mann für sie sogar von Bedeutung ist.
  5. Vielleicht besucht sie […] über ihn.
  6. Mittwochs lächelte […]zu.
    • Hier stellt der Mann Überlegungen an – und ganz nebenbei erfährt man, dass er an seine Frau denkt und wie sie sich verhalten hat.
    • Der Leser fragt sich, ob die Frau des Mannes vielleicht tot ist – oder ihn einfach nur verlassen hat.
    • Denn er scheint ziemlich (auch?) einsam zu sein.
  7. Ob er es bemerkt hatte? […]Jeden Tag.
    • Wieder der Perspektivenwechsel zurück zur Frau: Die fragt sich das, was der Mann eben für sich in Gedanken festgestellt hat. Für ihn hat es Bedeutung, ob er die Frau beim Rausgehen am Fenster sehen kann.
    • Interessant, dass diese Frau nicht an einen früheren Mann denkt, sondern der Mann mit dem Hund für sie eine aktuelle Bedeutung hat, auf die sie sich real – und nicht nur in der Erinnerung konzentrieren kann.
  8. Nicht immer […] dachte sie.
    • Hier nach dem Lächeln wieder ein Hinweis auf den aktuellen Stand der Beziehung zwischen den beiden Menschen.
    • Auf jeden Fall ist klar, dass hier kein Bemühen um ein Sich-gegenseitig-Ansehen da ist, sondern das eher dem Zufall überlassen wird.
    • Dann ein freundlicher Gruß und eine minimal positive Bemerkung der Frau zu dem Mann – mehr scheint da nicht zu laufen.
    • Irgendwann fragt man sich als Leser, wann denn nun endlich der rote Schal auftauchen wird, der in der Überschrift genannt wird.
  9. Er bemühte sich […] er sich das ein?
    • In diesem Abschnitt klärt sich einiges: Der Mann mit dem Hund ist alt, die Frau anscheinend noch älter und verlässt deshalb das Haus nicht so selbstverständlich wie die Frau.
    • Ansonsten verstärkt sich der Eindruck, dass es hier um um „einen guten Eindruck“ geht.
    • Dazu kommt das Bedürfnis des Mannes, dass er selbst mit seinem Hang zur Pünklichkeit bemerkt wird – vor allem von der alten Dame.
    • Es folgt die leicht zu klärende Überlegung, ob sie ihn kennt – oder ob er sich nur etwas einredet.
    • Man fragt sich, warum dieser Mann nicht auf die Frau zugeht, wenn sie für ihn so wichtig ist.
  10. Er legte […]Pünktlichkeit.
  11. Nur einmal […] wieder gesund.“
    • Jetzt endlich kommt der rote Schal ins Spiel. Er ist Teil dieser seltsamen Kommunikation über Gesten – und dazu gehört auch das Tragen eines roten Schals, von dem der Mann hofft, dass er als Erklärung für sein Abweichen vom Normalverhalten verstanden wird.
  12. Sie verstand […] beherrscht.
  13. Selten, […] die Stadt.
  14. „Vielleicht sucht […] dachte sie.
  15. „Bestimmt ist er […] ich dazu?
    • Am Ende dann der Hinweis, dass die Frau das Signal verstanden hat. Und dann gleich die entsprechende Reaktion des Mannes: Beide würden gerne Kontakt aufnehmen mit dem Gegenüber – aber die Frau redet sich ihre inneren Schranken mit dem Hinweis auf den Hund des Mannes weg. Der Mann reagiert so, als würde das seine Ehre schmälern oder zumindest gegen seine Normen verstoßen. Man sieht hier: Die Frau ist weiter als der Mann, was eine mögliche Überbrückung des unnötigen Abstandes zwischen diesen beiden Menschen angeht.
    • Deutlich wird jetzt immer mehr, was der Geschichte zugrundeliegt – nämlich eine Zurückhaltung, die wohl typisch ist für frühere Generationen in unserer Kultur. Das gehört noch in eine Zeit, als vor allem Frauen sich im Kontakt zu Männern zurückhielten – sicherlich nicht primär aus Bedürfnis, sondern weil es zur gesellschaftlichen Norm gehörte.
    • Kaum jemand weiß, dass es für Frauen noch in der Zeit nach dem II. Weltkrieg nicht selbstverständlich war, einfach in ein Café oder ein Restaurant zu gehen.
    • Es lohnt sich auch, einfach mal zu recherchieren, wie lange eine Ehefrau in Deutschland noch die Zustimmung des Mannes brauchte, um berufstätig zu sein.
    • Geblieben sind noch Rituale, wie dass der Mann beim etwas formelleren Tanzen die Frau auftaucht – und dass manche Frauen immer noch meinen, sie müssten warten, bis der Mann ihnen einen Antrag macht.
    • Jeder mag selbst überlegen, wo es auch sonst noch Reste dieser früheren Unterschiede in den Verhaltensspielräumen von Männern und Frauen gibt.

Auswertung der Geschichte:

Sie zeigt:

  1. Zunächst einmal die Einsamkeit des Alters, die dazu führt, dass einem auch kleine Aufmerksamkeiten anderer Menschen sehr wichtig sind.
  2. Dann wird vor allem deutlich, welches Ausmaß an Selbstbeherrschung es früher zwischen Männern und Frauen geben konnte.
  3. Bei der Frau ist es so, dass die zumindest kurz drüber nachgedacht hat, auf diesen Mann zuzugehen.
  4. Dieser kommt nicht mal auf die Idee.
  5. Letztlich kann die Geschichte verstanden werden als Ermutigung, es nicht dazu kommen zu lassen, dass man nur nebeneinander herlebt und über Aufmerksamkeit, Grüßen und ein Lächeln nicht hinauskommt.
Zur künstlerischen Gestaltung der Kurzgeschichte
  1. Wir finden es schade, dass die Beschäftigung mit Literatur in der Schule sich häufig beschränkt auf das Abgleichen mit irgendwelchen Listen von „sprachlichen Mitteln“.
  2. Das ist mühsam, wird den literarischen Texten meist nicht gerecht. Denn kein Autor schielt beim Schreiben auf solche Listen. Stattdessen achtet er auf die Stimmigkeit der Geschichte – inhaltlich und von der Musik des Textes her.
  3. Natürlich freut sich der Autor auch, wenn es ihm gelingt, auch sprachlich sich abzuheben von der unkünstlerischen Präsentation von Geschichten, wie es im Alltag üblich ist.
  4. Also schauen wir uns mal an, was der Autor sich hat einfallen lassen – oder was ihm einfach so eingefallen ist, um das Wesentliche der Geschichte gut überkommen zu lassen.
  5. Da ist zunächst die Idee mit dem roten Schal, der damit zum Symbol wird für das, was hier möglich wäre, aber letztlich auf ein Zeichen beschränkt wird.
  6. Dann fällt auf, wie die Gedanken der beiden Menschen zusammenkomponiert sind. Gleich am Anfang schon fällt auf, wie sie sich auch wortlos verstehen, ja phasenweise das Denken des Anderen in die eigenen Überlegungen einbeziehen.
  7. Wichtig ist die Leserlenkung in der Geschichte, auf die wir bei den einzelnen Abschnitten hingewiesen haben.
  8. Wunderbar herausgearbeitet sind die Momente, in denen die beiden Menschen vor einer Entscheidung stehen, für die sie anscheinend nicht genug Mut aufbringen.
  9. Fast schon tragisch ist, wie der Höhepunkt mit dem roten Schal verebbt – man in die alten Gedankenrituale zurückfällt.
  10. Hier bleibt dem Leser nur die Möglichkeit, der Geschichte ein anderes Ende zu geben. Zum Beispiel könnte der Mann neugierig werden, was mit dem Mittwoch der Frau los ist. Vielleicht bleibt er mal so lange am Fenster, bis die Frau abgeholt wird, dann spricht er sie kurz an – und dann ist das Eis der traurigen Normierung vielleicht gebrochen.

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