Andreas Heidtmann, Notfalls Marmelade – ein bisschen moderner „Taugenichts“ (Mat884)

Worum es hier geht:

In der Kurzgeschichte „Notfalls Marmelade“ geht es um eine Mutter, die offensichtlich in finanziellen Schwierigkeiten steckt und darauf nur mit literarischer Fantasie reagieren kann. Als sie sieht, dass ihr das auch nicht weiterhilft, hat sie das Glück, von einem Mann mit dem Auto mitgenommen zu werden, der dann ihr neuer Freund wird.
Vergleich mit Eichendorff, „Taugenichts“?
  • Die Geschichte erinnert in  zweierlei Hinsicht an Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“.
  • Zum einen ist da der unglaubliche Leichtsinn, mit dem die Notlage angegangen wird. Als die Kündigung für die Wohnung kommt, schnappt man sich einfach die Tochter und geht auf eine nächtliche Abenteuerreise.
  • Und dann ist da natürlich das unglaubliche Glück, dass man am Ende genau die Person trifft, mit der man im Rahmen des Möglichen glücklich werden kann.
  • Näheres zu Eichendorffs „Taugenichts“
    https://www.einfach-gezeigt.de/taugenichts-themenseite
Struktur der Geschichte:
  • Ein Aufzug als Bild des Ständig-immer-weiter-nach-unten-Gleitens, nachdem der Vater die Familie offensichtlich verlassen hat und nur noch Mahnungen kommen
  • Es folgen Überlegungen zu Anschaffungen, die aber immer mehr ins finanzielle Minus führen.
Was an der Geschichte nicht so ganz überzeugt:
  • Nicht alles kann ganz überzeugen, so etwa das Informationsdefizit, wenn man keinen Strom mehr hat. Geht das Kind in eine Schule? Gibt es eine Stadtbücherei?
  • Ebenso überzeugt nicht, dass man keinen Job bekommt, weil man sich die Haare nicht föhnen kann – gibt es auch noch andere Freunde als die seltsame Freundin, die ebenso voll auf dem Negativ-Trip ist? Nachbarn? Auf jeden Fall wird kein Versuch unternommen, realistisch mit der Situation umzugehen – wie wir schon sagen – ein regelrechter „Taugenichts“-Leichtsinn, nur eben viele Stockwerke darunter und auch zu Lasten  des Kindes, das in seiner Unschuld „lacht“, aber eigentlich unter einer solchen perspektiv- und haltungslosen Mutter leidet.
  • Was die Zukunft und die Möglichkeiten des Kindes angeht, werden sie wohl eher von dieser Mutter blockiert als von den Rahmenbedingungen. Bei dem Autor muss man doch wohl eher vom deutschen Sozialstaat ausgehen, der doch mehr zu bieten hat, als diese Mutter abruft.
  • Letztlich muss man die Antwort auf die Frage wohl umschreiben, wer dieser Frau und ihrem Kind gekündigt hat. Nicht das Leben, sondern diese Frau selbst.
  • Die folgende Wanderung in die Nacht hinein dürfte wohl nicht lange Träume auslösen, sondern eher Traumata.
  • Vor allem, wenn es dieser Mutter anscheinend egal ist, ob ein rettender Ritter kommt oder ein Verrückter mit Messer.
  • Am Ende dann die Rettung durch einen Autofahrer – nachdem der Mutter offensichtlich doch die Einsicht gekommen ist, dass eine gekündigte Wohnung immer noch besser ist als ein Leben im Wald.
  • Bezeichnend ist, dass diese Frau dann zum Dank mit dem Retter ins Bett steigt – inwieweit dieser Mann zu ihr passt, wird nicht weiter geklärt. Es reicht die Erkenntnis: „Alles ist einfacher, wenn man weiß, neben wem man am anderen Tag aufwacht.“ Es bleibt dem Leser überlassen, ob er das bereits als eine Art weiblichen Ritterinnenschlag für den neuen Partner verstehen will.
  • Am Ende bleibt offen, wie es weitergehen kann und ob vor allem die „Haushaltslöcher“ erst mal gestopft werden können. Inwieweit der neue Freund auch in der Lage ist, diese Frau einigermaßen auf Realitäten einzustellen, bleibt ebenfalls offen. Immerhin iste neben den „Haushaltslöchern“ auch von „Ungeheuern“ die Rede, die gebändigt werden müssen.
Zusammenfassung
  • Insgesamt eine Kurzgeschichte mit direktem Einstieg und einem offenen Schluss.
  • Was den „Ausriss aus dem Leben“ angeht, wird wenig geliefert.
  • Letztlich hat man den Eindruck, dass diese Frau in die vorherige Beziehung genauso bewusstlos gestolpert ist wie in die neue. Es ist eine Frage des Glücks, wenn es positiv weitergehen soll. Alles hängt von diesem Autofahrer ab. Er muss nicht nur Geld haben,  sondern auch ein guter Psychologe sein – auch gilt es ja noch das Kind für sich zu gewinnen. Aber das scheint ja mit der Situation ganz gut klarzukommen.
  • Insgesamt eine Geschichte, die durchaus nachdenklich machen kann, was die Situation von verlassenen Frauen und Kindern angeht. Aber der Taugenichts-artige Leichtsinn, mit dem die Ich-Erzählerin über allem schwebt (man denke an das Bild des Windes, der die Problembriefe einfach hinausweht) mag eine persönliche Lösungsstrategie in einer solchen Notzeit sein – aber man ist dabei zu abhängig von dem einen Glücksfall, der einen vor einer Nacht auf einer Waldlichtung mit der Aussicht auf Mahlzeiten mit Mais und Rüben bewahrt.
Anregung:
  • Man könnte ausgehend von dieser Kurzgeschichte mal überlegen, auf welche anderen Problemsituationen des Lebens man ein solches Verhalten mit möglichst gutem Ende übertragen könnte:
  • Als Schüler denkt man schnell an eine misslungene Klassenarbeit. Die Mitschüler werden sich ebenso wundern wie der Lehrer, wenn man die Fünf lächelnd entgegennimmt, dem Schicksal dankt, dass es keine Sechs war und dann eine Reise durch die Kneipenszene des Ortes antritt.
  • Und wenn man dann zufällig einen Pädagogen am Tresen trifft, der zum „Freund“ und „Bändiger der Ungeheuer“ wird – dann kann man wahrscheinlich den Wert dieser Kurzgeschichte viel besser beurteilen, als wenn man sie nur interpretiert hat.

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