Arno Holz, „Die Nacht verrinnt …“ (Mat1613-dnv)

Das Gedicht ist u.a. hier zu finden.

1. Einleitung

  • Das Gedicht „Die Nacht verrinnt“ wurde von Arno Holz (1863–1929) verfasst, einem Vertreter des Naturalismus, der mit seinen Werken die sozialen Missstände des ausgehenden 19. Jahrhunderts thematisierte.
  • Das Gedicht stammt aus dem „Buch der Zeit“ (Berlin, 1892) und gehört zur sozialkritischen Lyrik.
  • Thema ist die die Frage, wie die Lage der Arbeiter im Kontrast zum Wohlstand der oberen Klassen in der damaligen Zeit war.

2. Äußere Form: Reim und Rhythmus

  • Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit je neun Versen.
  • Es gibt ein Reimschema, das mit einem Kreuzreim beginnt
    abab
    Dann aber auf ganz eigene Weise weitergeht:
    cdccd
  • Das Metrum ist ein vierhebiger Jambus. (xXxXxXxXx)

3. Inhaltliche Analyse (mit Zwischenfazits)

Strophe 1 (Z. 1–9): Der brutale Tagesanbruch

  • Die Nacht vergeht, die Fabrik erwacht (Z. 1–4).
  • Der Tag wird nicht als Hoffnung, sondern als brutales Ereignis dargestellt: Der Morgen „dämmert“, Maschinen „pochen“ und „hämmern“, es ist ein „hirnzermarterndes Gequik“.
  • In Z. 7 wird der Tagesanbruch sogar mit einem Blutbild verknüpft („spritzt der Tag sein Blut“).
  • Das Elend erwacht, der Tag bringt keine Besserung – im Gegenteil.

Zwischenfazit: Schon der Einstieg zeigt eine düstere, hoffnungslose Welt, in der der neue Tag keine Erleichterung bringt. Die bildgewaltige Sprache unterstreicht das Leid des Proletariats.

Strophe 2 (Z. 10–18): Das Leid des Volkes

  • Hier tritt das lyrische Ich emotional auf („Die Schläfen zittern mir…“) und denkt an das Volk, das „sich ducken muss um ein Stückchen Brod“.
  • Es wird eine Klassenspaltung thematisiert: Während das Volk „verthiert“ in der Gosse lebt, genießen Reiche Luxus (Z. 16–18).

Zwischenfazit: Die Ungerechtigkeit wird schärfer konturiert, das lyrische Ich ist wütend, aber auch hilflos. Die emotionale Beteiligung verstärkt das Leid und den Vorwurf an die Gesellschaft.

Strophe 3 (Z. 19–27): Kritik an den Herrschenden

  • Die Oberschicht („Ritter von der engen Taille“) wird scharf kritisiert.
  • Sie bezeichnet das Volk als „Kanaille“, betrügt es (Z. 22) und lebt sorgenfrei, obwohl Millionen hungern.
  • Der Reichtum bleibt unangetastet, während Kasernen, Kirchen und Kanonen das System stützen (Z. 25–27).

Zwischenfazit: Die Wut steigert sich – der Spott über die „Dandys“ und die Polemik gegen Kirche und Militär deuten auf einen radikalen Gesellschaftsüberdruss hin.

Strophe 4 (Z. 28–36): Resignation und Appell

  • Die letzten Verse fragen resigniert, wie lange die Barbarei noch dauert.
  • Trotz sichtbarer Missstände bleibt das Volk passiv, weil es selbst schon entmenschlicht wurde – „Der Mensch wird zur Maschine“ (Z. 34).
  • Das „alte Tretrad“ (Z. 36) symbolisiert den ewigen Kreislauf der Unterdrückung.

Fazit: Das Gedicht endet pessimistisch. Der letzte Appell verhallt im Nichts – das lyrische Ich erkennt, dass selbst die Opfer nicht mehr zum Widerstand fähig sind.


4. Zentrale Aussagen

Das Gedicht macht deutlich:

  • dass die Industrialisierung das Leben des Proletariats zerstört (Z. 1–4, Z. 14)

  • dass es eine skandalöse Spaltung zwischen Arm und Reich gibt (Z. 13, Z. 16–18)

  • dass die Reichen rücksichtslos, gleichgültig und zynisch sind (Z. 21–25)

  • dass das Volk resigniert und sich mit seinem Leid abgefunden hat (Z. 32–36)


5. Sprachliche und rhetorische Mittel

  • Reihungen („walkt und stampft und pocht und hämmert“ Z. 3) → betonen den Lärm der Maschinen.

  • Personifikation („spritzt der Tag sein Blut“, Z. 7) → brutaler Tagesanbruch, Verlust von Hoffnung

  • Personifikation („Das Elend […] thut […] seine Augen auf“, Z. 9) → Elend als lebendiges Wesen

  • Hyperbeln („Verreckt sind hinterm Hungerzaun“, Z. 24) → drastische Darstellung von Elend

  • Ironie/Sarkasmus („köstlich mundet ein Kapaun!“, Z. 27) → Zynismus der Oberschicht

Diese Mittel unterstützen die Wirkung der Aussagen: Die Misere des Volkes wird emotional und drastisch dargestellt, die Schuldigen klar benannt.


6. Bedeutung und Relevanz

  • Das Gedicht dient als scharfe sozialistische Anklage gegen Ungleichheit, Ausbeutung und Entmenschlichung durch Kapitalismus und bürgerliche Ignoranz.
  • Es will den Leser aufrütteln – doch es endet resignativ.
  • Gerade diese Mischung aus Appell und Pessimismus macht es auch heute noch aktuell, etwa im Hinblick auf soziale Ungleichheit und Arbeitsbedingungen.

7. Einschätzung der Qualität

  • „Die Nacht verrinnt“ ist ein sprachlich eindringliches, sozialkritisches Gedicht, das durch starke Bilder, rhythmische Unruhe und emotionale Dichte beeindruckt.
  • Arno Holz gelingt es, das Leid des Industriezeitalters eindrucksvoll und wortgewaltig zu porträtieren. Zwar wirkt manches sprachlich überzogen, doch es passt zur Intention der Anklagepoesie.

8. Persönliche Erst-Reaktion von Mia (fiktive Schülerin)

  • Ich finde das Gedicht sehr heftig und traurig.

  • Die Sprache ist manchmal schwer zu verstehen, aber sehr eindrucksvoll.

  • Besonders die Bilder wie „Der Tag spritzt sein Blut“ sind brutal – das bleibt im Kopf.

  • Ich finde es gut, dass das Gedicht so klar Stellung bezieht.

  • Die Kritik an den Reichen ist sehr direkt – das überrascht mich.

  • Es ist krass, wie hoffnungslos alles dargestellt wird.

  • Ich hätte mir am Ende irgendeine Hoffnung gewünscht.

  • Vielleicht könnte man das Gedicht in Politik oder Sozialkunde besprechen.

  • Für heute hat es mich an schlechte Arbeitsbedingungen in Fabriken erinnert.

  • Insgesamt finde ich es ein wichtiges Gedicht, aber auch bedrückend.

9. Kreative Anregung

Inhaltliche Ideen – Motive für ein Gegenwarts-Gedicht

  • Lärm und Kälte des digitalen Alltags
    → Smartphones surren statt Maschinen stampfen, aber auch: ständiger Druck, erreichbar zu sein

  • Ausbeutung durch Billiglohnarbeit / Plattformarbeit
    → Essenslieferdienste im Regen, Paketboten ohne Pause, Influencer unter Erfolgsdruck

  • Soziale Kälte / Vereinsamung
    → Alle schauen aufs Handy, niemand redet miteinander
    → Rentner im Supermarkt sparen an allem, während Villen leer stehen

  • Klimakrise
    → „Der Himmel brennt“, die Welt erstickt, während Konzerne Profite feiern

  • Krieg / politische Ohnmacht / Rechtsruck
    → Fernseher zeigt Bomben, und niemand schaltet ab
    → Menschen ertrinken, Europa schaut zu

  • Konsumwahn vs. Armut
    → Ein Kind bettelt neben einer Luxus-Boutique
    → SUV parkt auf dem Radweg, während der Bus ausfällt

Ein guter Einstieg könnte wieder mit einem Bild des Tagesbeginns oder Alltags beginnen – aber modern:

  • „Der Bildschirm flackert, der Wecker kreischt,
    Die Stadt vibriert, die Straße schreit.“

Oder:

  • „Die Welt erwacht im Plastikregen,
    TikToks zischen durch das Licht.“

Oder:

  • „Ein Lieferdienst im Nebel friert,
    Der Hunger fährt auf E-Bikes aus.“

Das Gedicht könnte dann – ähnlich wie Holz – zwischen Beobachtung, Anklage, Verzweiflung und vielleicht einem resignierten Appell wechseln. Wichtig ist dabei der Kontrast: Alltag und Elend nebeneinander.

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